Dezember 2020, Baden (Schweiz)

»Alima, warum hast du nach der Geburt keine Liebe für dein Kind empfunden?«

Ihr Mann lag verschwitzt über ihr, schaute sie verträumt an und flüsterte: »Ich will eine Familie gründen mit dir.«
»Bist du dir sicher?«, fragte sie, denn diesen Gedanken hatte sie schon seit einiger Zeit.
»Ja. Das will ich.«
»Dann werde ich die Pille noch zu Ende nehmen und danach absetzen.«

Diese Szene trug sich an einem Juniabend vor 6 Jahren zu, und eines Tages beschloss sie, ihre Geschichte aufzuschreiben. Explizit und detailreich. Über die Angst während der Schwangerschaft, über die Enttäuschung im Gebärsaal und über das Ende mit den Sternen. Andere mussten unbedingt davon erfahren. Dann schickte sie das Dokument ab.
Der Empfänger lebte einige Kilometer entfernt, sie kannte ihn nicht. Neben dieser Person schimmerte die Nachttischlampe, als er einen Blick auf die Uhr warf, die bereits nach Mitternacht zeigte. Alex öffnete die eingetroffene Nachricht, und ohne es zu wollen, so kurz vor dem Schlafengehen, begann er zu lesen. Der Titel lautete:

Eine grüne Wand.

»Es hiess, es würde lange gehen, wenn man die Pille genommen hat. Nun hat es nach drei Monaten bereits eingeschlagen, aber zu dem Zeitpunkt wusste ich das noch nicht.

Meine Schwester hatte schon länger versucht schwanger zu werden. Jetzt jubelten wir ihr zu, natürlich war das spannend für alle. Wie sich das so anfühlte, ob man was spürte. Ich weiss noch genau, ich stand im Eingang und habe sie gefragt. Sie zählte einige Symptome auf und mein Puls stieg. Mir war, oh Gott, ich glaube ich bin auch schwanger. Ich holte mir einen Test und er war positiv. Positiv! In meinem Kopf kamen Freude, Angst und Panik zusammen. Ist das wirklich wahr? Ein Kind und ich soll es grossziehen? Bin ich dazu schon bereit? Wie sollte ich das nun den anderen sagen, da meine Schwester doch auch schwanger war und ich ihr nicht den Mittelpunkt nehmen wollte.

Die Freude meiner Familie hielt sich leider in Grenzen. Am meisten tat es weh, von meiner Mutter keine Umarmung bekommen zu haben und nicht zu hören, dass sie sich freute für mich. Aber eine starke Frau wie ich, die alles kann, ach was, diese Schwangerschaft mache ich doch mit links. Ich werde trotzdem Sport machen, ich werde auch diese Hormone nicht haben, die einem aus dem Gleichgewicht bringen. Aber all das war ein riesiger Irrtum.

Ich war im 4. Monat als ich mein Kind nicht mehr wollte, ich wollte es abtreiben, obwohl es gewollt war, jedoch nicht so früh. Ich schrie, ich weinte, weil ich nicht wusste, was ich mache. Jede Berührung von meinem Mann habe ich als Gewaltakt gesehen. Die Angst überkam mich, was, wenn mein Mann wie mein Vater ist und geht und ich allein bin mit meinem Kind wie meine Mutter? Was ist, wenn ich die Liebe nicht geben kann, die mein Kind braucht? Bei der Arbeit wollten sogar fremde Menschen meinen Bauch anfassen. Was denen eigentlich einfällt, habe ich mich gefragt. Ich habe meinen Bauch immer versteckt, ich war nie stolz darauf ihn zu zeigen.

Im 5. bis 7. Monat hatte ich stets leichte Schmerzen, ansonsten ging es ganz gut, aber im 8. Monat wurde es schlechter, ich zog mich immer mehr zurück, hatte negative Gedanken und konnte nicht mehr schlafen. Ende des 8. Monats begann das Wasser in den Beinen und im Gesicht. Ich hatte Herzrasen, mir ging es nicht mehr gut. Kein Arzt hat mich ernst genommen, ich sagte denen, dass mein Kind zu gross sei, ich sagte ihnen, dass ich schon seit zwei Wochen in den Wehen läge. Aber ich wurde immer weggeschickt und mir wurde gesagt, dass ich mir das einbilde, da es meine erste Schwangerschaft war und ich ja sowieso keine Ahnung habe. Ich dachte mir, okay, nun gut, wird schon stimmen. Aber mein Instinkt sagte mir was Anderes.

Nun gab es ein Fest bei der Familie meines Mannes, aber ich hatte keine Kraft und keine Lust, wollte aber auch nicht allein sein. Er brachte mich zu meiner Mutter, dann begannen die Wehen. Dank der Geburtsvorbereitung konnte ich richtig atmen und habe das sehr gut gemeistert. Meine Mutter brachte mich ins Krankenhaus. Da war ich so froh, dass sie dabei war.
Die Wehen wurden immer heftiger, aber glücklicherweise ist meine Schmerzgrenze ziemlich hoch. Mein Mann kam, meine Mutter verabschiedete sich, wobei ich am liebsten gleich losgeweint hätte. Warum ging sie jetzt einfach, warum sagte ich nichts? Wir durften in den Gebärsaal rein, ich wartete auf das Kommando, dass ich pressen durfte, aber es kam nie eines.

Die Oberärztin kam rein und fragte, wie es lief. Die Hebamme meinte, dass das Fruchtwasser grün gewesen wäre und dass die Herztöne des Babys nicht mehr gut seien. Ich war geschockt, das zu hören, warum sagte sie mir das nicht? Ich war schon so müde und bekam zusätzlich eine PDA. Sie schmerzte beim Reinstechen, dabei wollte ich doch eigentlich keine Hilfsmittel. Die Oberärztin kam später nochmals und meinte, wir machen einen Notkaiserschnitt, sie würde alles vorbereiten. ›Nein‹, schrie mein Kopf, ›nein.‹ Zu müde, um mich zu wehren. Sie brachten mich auf ein Bett, das mich nach unten fuhr. Ich war nackt, auch im Geburtsaal, das war so unangenehm, ich wollte angezogen sein, aber der Wunsch wurde ignoriert.

Links von mir hat sich mein Mann hingesetzt und hielt meine Hand. Grüner Stoff trennte meinen Blick auf das, was die Ärzte auf der anderen Seite machten. Es lief nicht wie erwartet. Ich blickte verängstigt um mich, drückte die Hand meines Mannes, dann wurde mir so schummrig und weg war ich.«

Alex schauderte, als er nun verstand, was mit der grünen Wand gemeint war. Er brauchte eine Pause, stand auf und ging ziellos im Zimmer umher. Er überlegte, ob das alles überhaupt an die Öffentlichkeit gehörte. Einige mochten über diese Geschichte bestürzt sein, manchen war es vielleicht egal, aber andere würden sich darin wiederfinden. Letztendlich hatte er darauf keinen Einfluss. Er atmete tief ein und setzte sich wieder hin.

»Weit weg hörte ich ein Babygeschrei. Ich machte innerlich meine Augen auf und sah ein Licht, es war gelb-orange-rot, so schön warm und gemütlich. Mir war als würde ich durch einen endlosen Korridor fahren. Und wieder war da das Geschrei eines Babys, plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ja schwanger war und in einen OP-Saal gebracht worden war. Stimmt, wach auf! Wach auf verdammt nochmal! Ich kämpfte mit mir und auf einmal schlug ich die Augen auf, alles war verschwommen und ich hörte meinen Mann. Ich hörte die ganzen Leute, schaute zu meinem Mann, dann zur Ärztin. Sie meinte, sie seien noch am Zunähen, danach sei ich fertig. Ich fragte meinem Mann, ob er die Nabelschnur durchschneiden konnte. Jedoch leider nein. Unser Sohn atmete nicht, es musste alles schnell gehen, ich wusste doch, dass es nicht okay war.

Welche Haarfarbe er denn hat, fragte ich. Dunkel, meinte sie. Ich freute mich, dann kamen also meine Gene durch. Wir hatten immer wieder über die Haarfarbe gescherzt. Dann korrigierte sie und sagte, die Haarfarbe wäre rot. Hmm, okay, dachte ich mir, und sie legte mir das kleine Ding auf die Brust. Ich schaute es an, meine Gedanken waren so düster. Ich fragte mich, ach, das soll es nun sein, das große Wunder, das soll so grossartig sein? Ich kriegte kaum Luft und bat sie, das Kind von mir zu nehmen.

Erschöpft lag ich im Bett, als mein Mann mit dem Kleinen kam. Er weinte vor Glück und fragte, ob ich ihn trotz der roten Haare lieb hab. Ja natürlich, war meine Antwort. Jedoch wusste er nicht, dass ich das nur so daher gesagt hatte. Ich schaue noch heute die Bilder an und erschrecke, wie abgeneigt ich war und wie ich meinen Sohn keines Blickes würdigte. Ich habe es nicht einmal geschafft, eine normale Geburt hinzubekommen, nicht einmal das Stillen schaffte ich. Zu doof für alles.

Wieder zu Hause war jeweils bereits der Morgen die Hölle. Wollte niemand das Kind haben? Ich würde es sofort hergeben, dachte ich mir. Ich behielt ihn aus Pflichtgefühl. Er schlief nie richtig bei mir, er konnte nie allein sein, sodass ich auf’s Klo gehen konnte. Immerzu brauchte er mich, immerzu musste ich mich nach ihm richten. Und schon wieder schreit er! Ich ging jeden Tag spazieren, morgens zwei Stunden und auch nachmittags, so hatte ich Ruhe, so schlief er endlich.

Meine Gedanken waren düster, ich wusste, dass ich was ändern muss. Durch die Mütterberatung kam ich langsam aus dem Schlamassel raus. Ich musste mich ändern. Ich musste mir bewusst machen, dass es nun nach dem Willen meines Sohnes geht. Ich musste mir kleine Inseln schaffen, wo ich mich selbst sein konnte. Das schaffte ich auch, aber immer wieder erinnerte ich mich an die Geburt. Ich fühlte mich als Versager. Konnte ich denn nicht einmal eine Geburt ohne Hilfe meistern? Konnte ich denn nicht einmal mein Kind stillen, zu was tauge ich eigentlich? Ich habe kläglich versagt. Nach einem halben Jahr habe ich schliesslich gelernt, damit umzugehen. Ab diesem Zeitpunkt fing ich an, Liebe für mein Kind zu empfinden.

Warum hatte mir niemand von den möglichen Schattenseiten bei einer Geburt erzählt? Oder vom fehlenden Empfinden für das eigene Kind? Wenn das kein Tabu wäre, würden sich bestimmt mehr Frauen Hilfe zu holen. Ich hatte Glück, dass ich nicht zu tief gefallen war. Ich hatte Glück, dass ich stark bin, dass ich von Allah solch eine starke Schulter bekam. Ich liebe mein Kind, ich könnte niemals ohne meinen Sohn sein, diese Liebe ist unbeschreiblich. Er ist mein Leben und er gibt mir so viel. Ich wünschte, ich hätte das schon früher erkannt.

Zwei Jahre später hatte ich den größten Schock meines Lebens. Mein Sohn hatte einen epileptischen Anfall. Woher ich das wusste? Keine Ahnung, ich wusste es einfach. Ich holte mir Hilfe, eineinhalb Stunden war der arme Kleine da drin. Das Schlimmste beim Anfall war nicht das Zittern, sondern die Augen, die Augen waren leer, keine Seele war mehr da, eine Hülle schüttelte sich auf dem Bett. Im Krankenhaus wurde er nach einem Tag endlich wieder wach und lächelte mich an. Ich war so dankbar.

Drei Tage blieben wir im Krankenhaus. Es war schlimm, wir durften nicht raus und waren isoliert. Noch schrecklicher aber machte es, dass ich eine Woche später mein 2. Kind im 3. Monat verlor. Ich hatte sogar ein Tagebuch gekauft und schrieb die Daten hinein, wusste jedoch, dass ich es nicht behalten werde. Ich war sehr traurig, nun hab auch ich ein Sternenkind. Ein Kind, das zu Allah zurückgekehrt ist und es in sha Allah auf mich wartet im Paradies. Mein Gefühl sagte mir, dass es ein Mädchen war. Ich war traurig, dass ich es nicht behalten durfte. Ich wollte alles anders und besser machen. Jedoch bin ich so froh, dass wir unseren Sohn wohlbehalten wieder nach Hause nehmen durften. Alhamdulillah.«

Alex schloss das Dokument und sass eine Weile regungslos da, schaute in die Dunkelheit. Er wusste nicht so richtig, was er fühlen sollte. In der Ferne hörte er eine Sirene, die schnell wieder abklang. Weihnachten war in ein paar Tagen, bis dann würde er nicht darüber nachdenken. Er öffnete das Fenster und liess die kühle Luft hereinströmen. Heute konnte man sogar die glitzernden Punkte am Nachthimmel sehen, richtig schön.

 



The 7 Memories ist eine Reise durch verschiedene Perspektiven. In der Memothek geschieht dies mit der Frage, worauf Menschen stolz sind in ihrem Leben.