Nach einem Hirninfarkt konnte ihr Ehemann weder gehen, essen noch sprechen. Seine Heilungschancen waren ungewiss. Über zwei Jahre lang setzte sich Christine unermüdlich dafür ein, dass er zurück ins Leben findet. Sie scheute nicht davor zurück, unkonventionelle Wege zu gehen und zeigt damit auf eindrückliche Weise, was bedingungslose Liebe für sie wirklich bedeutet.
*Dies ist eine Leseprobe. Die ganze Geschichte ist in meinem Buch zu lesen. Vollständige Geschichten sind beispielsweise diejenigen von Julian oder Hana.
Kapitel 1
»Vor mehr als acht Jahren gab es einen Tag, ab dem ich meinen Mann sechs Jahre lang keinen vollständigen Satz mehr aussprechen hörte. Zuvor hatten wir ausschweifende Diskussionen geführt, unsere Gefühle in Worte gepackt, einander Sehnsüchte und Ängste anvertraut, und plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden, gehörte dies der Vergangenheit an. Wir mussten lernen, auf unsere eigene Weise miteinander zu kommunizieren. Monate nach diesem einen Tag gab es Momente, in denen ich ihn vor einer schönen Kulisse in der Natur fotografierte, manchmal im Selfie-Modus, mit meiner Wange an der seinen. Dann verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, hob in mahnender Weise die linke Hand und rollte mit den Augen.
›Thomas, von dir kriege ich wirklich kein vernünftiges Foto hin‹, witzelte ich jeweils. ›Schau es dir an, wir wirken wie eine Zirkusnummer.‹ Dann wippte er auf seinem Rollstuhl hin und her und nickte mit dem spitzbübischen Lächeln, das ihn ausmachte.
Dieser eine Tag veränderte alles in unserem Leben. Es war sein 58. Geburtstag, den ich mir anders vorgestellt hatte, als durch die Tür eines Krankenhauses zu schreiten.
Zwölf Stunden zuvor war ich die Treppe runtergerannt und hatte ohne zu zittern die Notrufnummer gewählt. Meine Gedanken waren klar gewesen, die Fragen der Zentrale hatte ich mit gefestigter Stimme beantwortet. Sie kamen mit Blaulicht, die Szene wirkte so, als wäre ich in einem Traum gefangen. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie Thomas auf eine Trage legen und in den Wagen schieben. ›Sie können in einer Stunde nachkommen‹, sagten sie und fuhren in Richtung Stadt davon. Die Sirene klang ab und verstummte schliesslich ganz.
Kurz danach bekam ich die Information, dass Thomas’ Lage schlimmer war als gedacht. Sie wussten nicht, wie stark seine Wirbelsäule verletzt ist. Somit verlegten sie ihn noch in dieser Nacht nach Ulm auf die Intensivstation. Ich sollte zu Hause bleiben und abwarten. Mein kurzer, aber tiefer Schlaf wurde um ein Uhr morgens vom Klingeln meines Handys unterbrochen. Hellwach erklärte ich dem Arzt, dass mein Mann im Falle der Notwendigkeit keine lebensverlängernden Massnahmen wünscht. Dann blieb ich schlaflos, ohne zu weinen. Manchmal drehte ich den Kopf zur Seite, in die Richtung, wo Thomas normalerweise lag. Nun war dort nur sein unberührtes, kaltes Kissen. Das Leben hatte für uns eine Entscheidung getroffen, die zu treffen wir nicht in der Lage waren. Das ging mir immer wieder durch den Kopf.
Einige Stunden später erhielt ich die erlösende Nachricht, dass ich ihn auf der Intensivstation besuchen kann. Beim Verlassen des Hauses warf ich einen Blick zurück und überlegte, ob ich sein Geschenk mitnehmen wollte: drei Jonglierbälle, die in einem bunten Säckchen verpackt auf dem Tisch lagen. Resigniert schüttelte ich den Kopf und löste mich vom Gedanken, meiner eigenen Erwartungshaltung gerecht zu werden.
Er war wach, als ich in den Raum voller elektronischer, piepsender Geräte trat. Lange war es her, dass ich eine Intensivstation von innen gesehen hatte. Ich spürte die Schwere, mit der die Menschen hier um ihr Überleben kämpften. Ein junger Krankenpfleger schenkte mir ein gütiges Lächeln, als er an mir vorbeiging und mich zurückliess. Unsicher schaute ich mich um. Der Raum war mit grünen Vorhängen in zwei Bereiche geteilt, in einem davon befand sich sein Bett, auf das ich mit leisen Schritten zuging.
›Hallo Thomas‹, flüsterte ich, und er sah mich mit seinem weichem Blick an, den ich nur allzu gut kannte. Es schien mir in diesem Moment eines der wenigen Merkmale zu sein, die ihm geblieben waren. In seinen Augen sah ich, dass er wusste, wer ich bin. Eine Erleichterung ging durch meinen Körper, klang jedoch ab, als ich seine Erscheinung genauer betrachtete. Sein Körper wirkte steif, die Trachealkanüle an seinem Hals war beängstigend. Diverse Schläuche und Kabel führten von Geräten und Beuteln zu seinen Armen und zu seiner Brust. Am unteren Ende des Betts entdeckte ich einen Blasenkatheter.
Wie ich mich in diesem Moment genau fühlte, ist schwierig zu beschreiben. War es Hilflosigkeit, weil das einzige, was er zu bewegen imstande schien, seine Augen waren? Oder hatte ich Schuldgefühle, weil ich all die Jahre zu wenig hartnäckig gewesen war? Mein Kopf war ein Strudel voller wirrer Gedanken, Fragen und Bilder. Bilder, wie Thomas bis zwölf Stunden vor diesem Zeitpunkt als Mensch gewesen war. Wie wir fast jede Woche die kleine Kapelle im Wald besuchten, zur Decke emporschauten und die Stille auf uns wirken liessen. Thomas war ein feinfühliger Mensch, er konnte am Familientisch sitzen, und wenn alle gegangen waren, zu mir sagen: ›Leo und Annina haben sich zerstritten, hast du das gemerkt?‹
›Nein, wie kommst du darauf?‹ erwiderte ich dann.
Er würde mit den Schultern zucken, so als wäre seine Feststellung eine augenscheinliche Beobachtung und erläuterte auf mein Nachhaken, dass die beiden normalerweise vertraute Blicke austauschen. So kannte ich meinen Ehemann: Ihm entging selten eine Botschaft zwischen den Zeilen, selten ein Detail, das sich im Hintergrund als deutlich mehr entpuppte. Er erahnte Wendungen, bevor sie eintrafen.
Nach ein paar Sekunden, in denen ich still und regungslos vor ihm gestanden war, nahm ich einen Stuhl und setzte mich an seine rechte Seite. Sein Atem ging schwer, die Trachealkanüle gab durch den Luftstrom ein regelmässig einschnappendes Geräusch von sich. Ich überlegte, ob ich seine mit einem Injektionsschlauch versehene Hand drücken konnte, doch ich hatte Respekt vor seiner Reaktion – einer ausbleibenden Reaktion. Stattdessen sagte ich zu ihm: ›Thomas, ich habe heute ein Reh gesehen, als ich zu dir gefahren bin. Zuerst stand es wie angewurzelt auf der Wiese beim Brunnen zu Beginn der alten Dorfstrasse, dann sprang es ins Dickicht neben dem alten Holzhaus. Weisst du wo?‹
Erwartungsvoll schaute ich in seine blauen Augen, woraufhin er ein paar Mal hintereinander schnell blinzelte.
›Meine Qi Gong-Stunde mit den Kindern ist gestern übrigens richtig erfolgreich verlaufen. Die Eltern fragten mich, ob ich auch Erwachsenenkurse anbiete. Es ist so gekommen, wie du es mir empfohlen hast: die Kinder immer mal wieder darauf aufmerksam machen, mir zuzuschauen. Dann können sie die Bewegungen für sich am besten umsetzen. Nach einer Stunde waren sie richtig stolz auf sich.‹
Wieder blinzelte er ein paar Mal hintereinander, und so viel ich ihm auch von den leichten Dingen meines Alltags erzählte, so blieb das Blinzeln seine einzige Reaktion. Es brach mir das Herz, doch ich widerstand dem Drang, ihn und damit mich zu bemitleiden. Ich fragte mich, ob es jemals wieder so sein würde wie früher. Ich fragte mich, wie gross Thomas’ Heilungschancen waren. Doch in diesem Augenblick wollte ich nur bei ihm sein, denn ich war mir sicher, dass er sich darüber freute, mich zu sehen und dass ich zu ihm sprach.
So vergingen die ersten drei Tage. Ich kam um acht Uhr morgens und ging um acht Uhr abends. Stets erzählte ich ihm von meinem Frühstück, meiner Hinfahrt, unserer quirligen sympathischen Nachbarin, von meinen Lieblingsbüchern, und manchmal blieb ich still und sah ihm beim Schlafen zu.
Bis ich am Nachmittag des vierten Tages aus keinem bestimmten Grund meinen Stuhl anstatt auf die rechte auf die linke Seite seines Betts stellte. Und da drehte sich sein Kopf ein Stück zur Seite, sodass er mich direkt anschauen konnte.
›Thomas, du kannst ja doch mehr als zu blinzeln‹, sagte ich überrascht.
Noch am selben Tag sass ich im Zimmer des Neurologen.
›Für Ihren Mann existiert die rechte Seite seines Körpers nicht. Der Infarkt in der linken Gehirnhälfte hat dazu geführt, dass die Signale nicht mehr an die Muskeln gesendet werden.‹
›Wird er sich jemals wieder uneingeschränkt bewegen können? Worauf muss ich mich einstellen?‹
›Dazu kann ich Ihnen schlicht keine Aussage machen. Jeder Mensch ist anders, es gibt nichts, was es nicht gibt. Ich habe Leute hier rausgehen sehen, von denen wir überzeugt waren, sie würden lebenslang an den Rollstuhl gebunden sein. Dann gab es Leute, die noch Wochen später keinerlei Fortschritte zeigten.‹
Entgeistert schaute ich ihn an, spürte die Kälte, die sich in mir ausdehnte. In diesem Moment gab es nichts, woran ich mich festhalten konnte.
An diesem Abend blieb ich länger als sonst bei Thomas. Durch das Fenster beobachtete ich den Schneeregen, der sich in der Dämmerung auf die Strassen niederlegte.
›Thomas‹, flüsterte ich schliesslich. Er schaute mich fragend an. ›Es wird anders werden. Nicht schlechter oder besser, einfach nur anders.‹
Thomas nickte unmerklich.
Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich froh, dass mir der Neurologe keine Antwort gegeben hat. So blieb alles offen. Ich erinnerte mich an die asiatischen Lehren, die mich schon seit Jahren begleiten und faszinieren, und die immer wieder zum selben Schluss kommen: Wir begrenzen uns stets selbst.
Am folgenden Tag, noch bevor ich in Thomas’ Zimmer ging, sprach ich auf der Station mit Ruth, einer Pflegerin. ›Thomas versucht immer wieder, den Blasenkatheter rauszuziehen‹, sagte sie zu mir. ›Ich musste seinen Arm am Bett fixieren. Nun versucht er es mit seinem Fuss, doch wir wissen nicht, woher er weiss, wo sich der Katheter befindet.‹
›Ich werde aufmerksam sein‹, antwortete ich.
Vor dem Bett blieb ich stehen. Wie üblich erwartete mich Thomas mit sanftem Blick, der heute ein Stück energischer schien. Er wirkte voller Tatendrang. Sein linker Arm wand sich in der Schlinge, die Ruth ihm verpasst hatte. Ich schritt vor, sodass ich seinen Blasenkatheter sah. Ich stutzte: Tatsächlich versuchte er mit den Zehen seines linken Fusses selbstsicher danach zu greifen, obwohl sein Blick nicht bis zum unteren Teil des Bettes reichte.
›Thomas, du darfst den Katheter nicht rausziehen‹, sagte ich zu ihm, als ich mich auf den Stuhl setzte. ›Du kannst noch nicht zur Toilette.‹ Doch es nützte nichts, stur machte er weiter und da konnte ihn niemand davon abbringen, das las ich an seiner entschlossenen Miene ab. Ich warf einen resignierten Blick nach draussen, die Sonne schien an diesem Tag kräftig durch das Fenster, und da begriff ich plötzlich, warum Thomas so selbstsicher seinen Fuss bewegte. Er sah sein Spiegelbild im Fenster. Dieser Moment gab mir viel Hoffnung, denn ich war mir nie ganz sicher gewesen, wie viel er von der Aussenwelt tatsächlich mitbekommt. Ob er nur auf meine Stimmlage reagierte oder ob er den Sinn meiner Sätze verstand. Nun hatte ich Gewissheit, dass in Thomas’ Kopf noch ganz viel funktionierte. Ab diesem Moment beschloss ich, mehr für ihn zu tun, als bloss neben ihm zu sitzen.«
(Ende der Leseprobe)