April 2023, Immenstadt im Allgäu (Deutschland)

»Christine, wie hat er es geschafft, zurück nach Hause zu kommen?«

Nach einem Hirninfarkt konnte ihr Ehemann weder gehen, essen noch sprechen. Seine Heilungschancen waren ungewiss. Über zwei Jahre lang setzte sich Christine unermüdlich dafür ein, dass er zurück ins Leben findet. Sie scheute nicht davor zurück, unkonventionelle Wege zu gehen und zeigt damit auf eindrückliche Weise, was bedingungslose Liebe für sie wirklich bedeutet.

Die Geschichte basiert auf mehreren Gesprächen, die ich mit Christine geführt habe. Das Portraitfoto haben wir an einem Ort gemacht, der in der Geschichte eine wichtige Rolle spielen wird.

(Lesedauer: 30 bis 40 Minuten)
(Dies ist eine Leseprobe. Die ganze Geschichte kannst du unter diesem Link kostenlos herunterladen.)

 

Kapitel 1


»Vor mehr als acht Jahren gab es einen Tag, ab dem ich meinen Mann sechs Jahre lang keinen vollständigen Satz mehr aussprechen hörte. Zuvor hatten wir ausschweifende Diskussionen geführt, unsere Gefühle in Worte gepackt, einander Sehnsüchte und Ängste anvertraut, und plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden, gehörte dies der Vergangenheit an. Wir mussten lernen, auf unsere eigene Weise miteinander zu kommunizieren. Monate nach diesem einen Tag gab es Momente, in denen ich ihn vor einer schönen Kulisse in der Natur fotografierte, manchmal im Selfie-Modus, mit meiner Wange an der seinen. Dann verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, hob in mahnender Weise die linke Hand und rollte mit den Augen.
›Thomas, von dir kriege ich wirklich kein vernünftiges Foto hin‹, witzelte ich jeweils. ›Schau es dir an, wir wirken wie eine Zirkusnummer.‹ Dann wippte er auf seinem Rollstuhl hin und her und nickte mit dem spitzbübischen Lächeln, das ihn ausmachte.
Dieser eine Tag veränderte alles in unserem Leben. Es war sein 58. Geburtstag, den ich mir anders vorgestellt hatte, als durch die Tür eines Krankenhauses zu schreiten.

Zwölf Stunden zuvor war ich die Treppe runtergerannt und hatte ohne zu zittern die Notrufnummer gewählt. Meine Gedanken waren klar gewesen, die Fragen der Zentrale hatte ich mit gefestigter Stimme beantwortet. Sie kamen mit Blaulicht, die Szene wirkte so, als wäre ich in einem Traum gefangen. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie Thomas auf eine Trage legen und in den Wagen schieben. ›Sie können in einer Stunde nachkommen‹, sagten sie und fuhren in Richtung Stadt davon. Die Sirene klang ab und verstummte schliesslich ganz.
Kurz danach bekam ich die Information, dass Thomas’ Lage schlimmer war als gedacht. Sie wussten nicht, wie stark seine Wirbelsäule verletzt ist. Somit verlegten sie ihn noch in dieser Nacht nach Ulm auf die Intensivstation. Ich sollte zu Hause bleiben und abwarten. Mein kurzer, aber tiefer Schlaf wurde um ein Uhr morgens vom Klingeln meines Handys unterbrochen. Hellwach erklärte ich dem Arzt, dass mein Mann im Falle der Notwendigkeit keine lebensverlängernden Massnahmen wünscht. Dann blieb ich schlaflos, ohne zu weinen. Manchmal drehte ich den Kopf zur Seite, in die Richtung, wo Thomas normalerweise lag. Nun war dort nur sein unberührtes, kaltes Kissen. Das Leben hatte für uns eine Entscheidung getroffen, die zu treffen wir nicht in der Lage waren. Das ging mir immer wieder durch den Kopf.
Einige Stunden später erhielt ich die erlösende Nachricht, dass ich ihn auf der Intensivstation besuchen kann. Beim Verlassen des Hauses warf ich einen Blick zurück und überlegte, ob ich sein Geschenk mitnehmen wollte: drei Jonglierbälle, die in einem bunten Säckchen verpackt auf dem Tisch lagen. Resigniert schüttelte ich den Kopf und löste mich vom Gedanken, meiner eigenen Erwartungshaltung gerecht zu werden.

Er war wach, als ich in den Raum voller elektronischer, piepsender Geräte trat. Lange war es her, dass ich eine Intensivstation von innen gesehen hatte. Ich spürte die Schwere, mit der die Menschen hier um ihr Überleben kämpften. Ein junger Krankenpfleger schenkte mir ein gütiges Lächeln, als er an mir vorbeiging und mich zurückliess. Unsicher schaute ich mich um. Der Raum war mit grünen Vorhängen in zwei Bereiche geteilt, in einem davon befand sich sein Bett, auf das ich mit leisen Schritten zuging.
›Hallo Thomas‹, flüsterte ich, und er sah mich mit seinem weichem Blick an, den ich nur allzu gut kannte. Es schien mir in diesem Moment eines der wenigen Merkmale zu sein, die ihm geblieben waren. In seinen Augen sah ich, dass er wusste, wer ich bin. Eine Erleichterung ging durch meinen Körper, klang jedoch ab, als ich seine Erscheinung genauer betrachtete. Sein Körper wirkte steif, die Trachealkanüle an seinem Hals war beängstigend. Diverse Schläuche und Kabel führten von Geräten und Beuteln zu seinen Armen und zu seiner Brust. Am unteren Ende des Betts entdeckte ich einen Blasenkatheter.

Wie ich mich in diesem Moment genau fühlte, ist schwierig zu beschreiben. War es Hilflosigkeit, weil das einzige, was er zu bewegen imstande schien, seine Augen waren? Oder hatte ich Schuldgefühle, weil ich all die Jahre zu wenig hartnäckig gewesen war? Mein Kopf war ein Strudel voller wirrer Gedanken, Fragen und Bilder. Bilder, wie Thomas bis zwölf Stunden vor diesem Zeitpunkt als Mensch gewesen war. Wie wir fast jede Woche die kleine Kapelle im Wald besuchten, zur Decke emporschauten und die Stille auf uns wirken liessen. Thomas war ein feinfühliger Mensch, er konnte am Familientisch sitzen, und wenn alle gegangen waren, zu mir sagen: ›Leo und Annina haben sich zerstritten, hast du das gemerkt?‹
›Nein, wie kommst du darauf?‹ erwiderte ich dann.
Er würde mit den Schultern zucken, so als wäre seine Feststellung eine augenscheinliche Beobachtung und erläuterte auf mein Nachhaken, dass die beiden normalerweise vertraute Blicke austauschen. So kannte ich meinen Ehemann: Ihm entging selten eine Botschaft zwischen den Zeilen, selten ein Detail, das sich im Hintergrund als deutlich mehr entpuppte. Er erahnte Wendungen, bevor sie eintrafen.

Nach ein paar Sekunden, in denen ich still und regungslos vor ihm gestanden war, nahm ich einen Stuhl und setzte mich an seine rechte Seite. Sein Atem ging schwer, die Trachealkanüle gab durch den Luftstrom ein regelmässig einschnappendes Geräusch von sich. Ich überlegte, ob ich seine mit einem Injektionsschlauch versehene Hand drücken konnte, doch ich hatte Respekt vor seiner Reaktion – einer ausbleibenden Reaktion. Stattdessen sagte ich zu ihm: ›Thomas, ich habe heute ein Reh gesehen, als ich zu dir gefahren bin. Zuerst stand es wie angewurzelt auf der Wiese beim Brunnen zu Beginn der alten Dorfstrasse, dann sprang es ins Dickicht neben dem alten Holzhaus. Weisst du wo?‹
Erwartungsvoll schaute ich in seine blauen Augen, woraufhin er ein paar Mal hintereinander schnell blinzelte.
›Meine Qi Gong-Stunde mit den Kindern ist gestern übrigens richtig erfolgreich verlaufen. Die Eltern fragten mich, ob ich auch Erwachsenenkurse anbiete. Es ist so gekommen, wie du es mir empfohlen hast: die Kinder immer mal wieder darauf aufmerksam machen, mir zuzuschauen. Dann können sie die Bewegungen für sich am besten umsetzen. Nach einer Stunde waren sie richtig stolz auf sich.‹
Wieder blinzelte er ein paar Mal hintereinander, und so viel ich ihm auch von den leichten Dingen meines Alltags erzählte, so blieb das Blinzeln seine einzige Reaktion. Es brach mir das Herz, doch ich widerstand dem Drang, ihn und damit mich zu bemitleiden. Ich fragte mich, ob es jemals wieder so sein würde wie früher. Ich fragte mich, wie gross Thomas’ Heilungschancen waren. Doch in diesem Augenblick wollte ich nur bei ihm sein, denn ich war mir sicher, dass er sich darüber freute, mich zu sehen und dass ich zu ihm sprach.

So vergingen die ersten drei Tage. Ich kam um acht Uhr morgens und ging um acht Uhr abends. Stets erzählte ich ihm von meinem Frühstück, meiner Hinfahrt, unserer quirligen sympathischen Nachbarin, von meinen Lieblingsbüchern, und manchmal blieb ich still und sah ihm beim Schlafen zu.
Bis ich am Nachmittag des vierten Tages aus keinem bestimmten Grund meinen Stuhl anstatt auf die rechte auf die linke Seite seines Betts stellte. Und da drehte sich sein Kopf ein Stück zur Seite, sodass er mich direkt anschauen konnte.
›Thomas, du kannst ja doch mehr als zu blinzeln‹, sagte ich überrascht.

Noch am selben Tag sass ich im Zimmer des Neurologen.
›Für Ihren Mann existiert die rechte Seite seines Körpers nicht. Der Infarkt in der linken Gehirnhälfte hat dazu geführt, dass die Signale nicht mehr an die Muskeln gesendet werden.‹
›Wird er sich jemals wieder uneingeschränkt bewegen können? Worauf muss ich mich einstellen?‹
›Dazu kann ich Ihnen schlicht keine Aussage machen. Jeder Mensch ist anders, es gibt nichts, was es nicht gibt. Ich habe Leute hier rausgehen sehen, von denen wir überzeugt waren, sie würden lebenslang an den Rollstuhl gebunden sein. Dann gab es Leute, die noch Wochen später keinerlei Fortschritte zeigten.‹
Entgeistert schaute ich ihn an, spürte die Kälte, die sich in mir ausdehnte. In diesem Moment gab es nichts, woran ich mich festhalten konnte.

An diesem Abend blieb ich länger als sonst bei Thomas. Durch das Fenster beobachtete ich den Schneeregen, der sich in der Dämmerung auf die Strassen niederlegte.
›Thomas‹, flüsterte ich schliesslich. Er schaute mich fragend an. ›Es wird anders werden. Nicht schlechter oder besser, einfach nur anders.‹
Thomas nickte unmerklich.
Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich froh, dass mir der Neurologe keine Antwort gegeben hat. So blieb alles offen. Ich erinnerte mich an die asiatischen Lehren, die mich schon seit Jahren begleiten und faszinieren, und die immer wieder zum selben Schluss kommen: Wir begrenzen uns stets selbst.

Am folgenden Tag, noch bevor ich in Thomas’ Zimmer ging, sprach ich auf der Station mit Ruth, einer Pflegerin. ›Thomas versucht immer wieder, den Blasenkatheter rauszuziehen‹, sagte sie zu mir. ›Ich musste seinen Arm am Bett fixieren. Nun versucht er es mit seinem Fuss, doch wir wissen nicht, woher er weiss, wo sich der Katheter befindet.‹
›Ich werde aufmerksam sein‹, antwortete ich.
Vor dem Bett blieb ich stehen. Wie üblich erwartete mich Thomas mit sanftem Blick, der heute ein Stück energischer schien. Er wirkte voller Tatendrang. Sein linker Arm wand sich in der Schlinge, die Ruth ihm verpasst hatte. Ich schritt vor, sodass ich seinen Blasenkatheter sah. Ich stutzte: Tatsächlich versuchte er mit den Zehen seines linken Fusses selbstsicher danach zu greifen, obwohl sein Blick nicht bis zum unteren Teil des Bettes reichte.
›Thomas, du darfst den Katheter nicht rausziehen‹, sagte ich zu ihm, als ich mich auf den Stuhl setzte. ›Du kannst noch nicht zur Toilette.‹ Doch es nützte nichts, stur machte er weiter und da konnte ihn niemand davon abbringen, das las ich an seiner entschlossenen Miene ab. Ich warf einen resignierten Blick nach draussen, die Sonne schien an diesem Tag kräftig durch das Fenster, und da begriff ich plötzlich, warum Thomas so selbstsicher seinen Fuss bewegte. Er sah sein Spiegelbild im Fenster. Dieser Moment gab mir viel Hoffnung, denn ich war mir nie ganz sicher gewesen, wie viel er von der Aussenwelt tatsächlich mitbekommt. Ob er nur auf meine Stimmlage reagierte oder ob er den Sinn meiner Sätze verstand. Nun hatte ich Gewissheit, dass in Thomas’ Kopf noch ganz viel funktionierte. Ab diesem Moment beschloss ich, mehr für ihn zu tun, als bloss neben ihm zu sitzen.

Am nächsten Tag sprach ich wiederum mit Ruth: ›Ich möchte meinem Mann helfen. Wir haben früher zusammen Qi Gong praktiziert, er ist begeistert davon. Was ist mir erlaubt? Darf ich etwas für ihn mitbringen? Schicken Sie mich nach Hause, wenn Sie meinen, dass es an der Zeit ist.‹
›Tun Sie das, was Ihrem Mann gut tut‹, erwiderte sie, ohne zu zögern.
Eine Stunde später kam Ruth ins Zimmer und meinte: ›Hier riecht es aber gut.‹ Ich lächelte und erklärte ihr, dass ich Thomas’ Arme und Füsse mit Eukalyptusöl eingerieben habe. Er hatte es genossen, immer wieder die Augen geschlossen und einen Spalt geöffnet – ähnlich einer Katze, die gestreichelt wurde.
Danach fragte ich ihn: ›Thomas, ich habe eine Klangschale mitgebracht. Ist das für dich in Ordnung, wenn ich sie benutze?‹
Sein Blick war voller Zustimmung, ich konnte seine Mimik klar von einem Nein unterscheiden. So hielt ich die Klangschale wenige Zentimeter über seinen Bauch und schlug sie sanft mit einem Knöppel an. Der tiefe Klang breitete sich im Raum aus und vor meinem inneren Auge sah ich, wie sein Körper die Schwingungen aufnahm.
Täglich stellte ich mich vor seine Füsse, legte meine Handflächen auf seine Haut und spürte, wie die Energie, die ich liebevoll dorthin leitete, durch ihn hindurchfloss. Und ich spürte ebenfalls, wie seine rechte Seite, die für ihn momentan nicht existierte, keinerlei Blockaden aufwies. Ich war mir sicher, dass er eines Tages wieder stehen und gehen kann, und dass seine rechte Seite zurückkommt.

So ging das eineinhalb Wochen lang, Thomas wirkte mit jedem Tag ein Stück aufgeweckter. Doch nach wie vor konnte er kein Wort sprechen, sondern kommunizierte nur mit Mimik. In einem weiteren Gespräch machte der Neurologe eine Aussage, die mir bis heute geblieben ist. Es war ein Lichtblick in einem Moment, der in mir alles in Frage gestellt hatte.
›Ihr Mann spürt Emotionen‹, meinte er zu mir. ›Er teilt Ihnen diese mit, auch wenn er sie nicht direkt aussprechen kann. Sprechen zu können, aber keine Emotionen zu verspüren, wäre ein liebloses Szenario. Der Umkehrfall jedoch gibt Ihnen die Chance, neue Wege zur Kommunikation zu finden. Nutzen Sie dies.‹
Ob Thomas jemals wieder würde sprechen können, war ungewiss. Für den Moment war es mir am wichtigsten, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Dabei stiessen meine täglichen Rituale auf Interesse und Verwunderung. Mit einem Teil des Pflegepersonals führte ich ausführliche Gespräche über meine Praktiken, erklärte ihnen geduldig, welchen Sinn ich darin sah. So entstand in diesen zwei Wochen, die Thomas auf der Intensivstation verbrachte, eine absichtslose Liebe zwischen uns, die die Voraussetzung für den langen, anspruchsvollen Genesungsweg war.«

 

Kapitel 2


»Als klar war, dass Thomas keine Verletzungen an der Wirbelsäule davongetragen hatte, wurde er von der Intensivstation nach Burgau in eine Klinik zur Frührehabilitation verlegt, fünfzig Kilometer von unserem Wohnort entfernt. Dort sollte er die körperlichen Grundfähigkeiten zurückerlangen, denn sitzen, sich drehen oder gar gehen lagen zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne.
›Am besten kann er sich in T-Shirt und Jogginghose bewegen‹, sagte eine Therapeutin zu mir am ersten Tag, als ich das grosse Gebäude mit seinen zahlreichen Gymnastik-, Sprech- und Sitzungszimmern betreten hatte.
Zu Hause öffnete ich den Kleiderschrank und fand genau zwei T-Shirts und keine Jogginghose. Thomas war ein Hemdenträger, trug oftmals eine Stoffhose, ab und zu auch mal eine Jeans, aber sicherlich keine Jogginghose. Somit ging ich direkt ins Einkaufscenter, und als ich Thomas später die Ausbeute präsentierte, legte er den Kopf schief und setzte eine wenig begeisterte Miene auf.
›Wenn wir hier rausgehen, Thomas, dann wirst du das in Hemd und Hose tun, das verspreche ich dir‹, sagte ich. Es war ihm wichtig, wie er gekleidet war. Seine eigene Wertschätzung verdeutlichte mir, dass Thomas den Willen hatte, Fortschritte zu machen. Er hatte stets auf sein Erscheinungsbild geachtet.

Als ich erkannte, dass Thomas motiviert war, an sich zu arbeiten, verfestigte sich mein Glaube daran, dass er eines Tages wieder nach Hause kommt. Vielleicht würde er sich nicht ohne meine Hilfe anziehen können. Vielleicht würde ich ihm beim Duschen helfen oder Bekannten erklären müssen, warum er im Rollstuhl sitzt. Ich fühlte mich emotional stark genug, für all das gewappnet zu sein.
Dennoch war ich erschöpft. Nachts schlief  ich augenblicklich ein, doch vier oder fünf Stunden später erwachte ich und fühlte mich, als hätte ich die Tiefschlafphase nicht erreicht.
›Bleiben Sie liegen und stehen Sie nicht auf, um zu bügeln oder sich anderweitig zu beschäftigen‹, sagte mir später ein Arzt. ›Ansonsten gewöhnt sich der Körper daran, dann haben Sie wirklich ein Problem. Solange Sie über Wochen hinweg nicht wie gerädert aufstehen, kriegt der Körper einigermassen genug Erholung.‹ Somit blieb ich liegen und dachte über Therapiepläne oder Finanzierungsgesuche bei Krankenkassen nach. Ich machte mir Gedanken, dass Thomas sich einsam fühlt oder dass er doch den Mut und die Geduld verliert und die Wochen und Monate nicht durchhält.

Jeden zweiten Tag fuhr ich nach Burgau, um Thomas zu den Therapiesitzungen zu begleiten: Physio, Ergo, Logopädie … ich hatte einen guten Draht zu den Therapeuten, die vielfach ihre Termine nach mir richteten. Sie schlossen Thomas mit seiner herzlichen, ehrlichen Art schnell ins Herz, obwohl er dickköpfig sein konnte. ›Legen Sie bitte Ihren Fuss auf den Hocker vor mir‹, sagte eine Therapeutin einmal zu ihm.
Doch stattdessen lehnte er sich ein Stück zur Seite, schaute sie an, streichelte ihre Wange und schüttelte den Kopf. Verdutzt tauschten wir Blicke und lachten schliesslich.
Ein anderes Mal kam ich in sein Zimmer und erschrak. Drei Therapeuten drückten an seinem Körper herum, einer lag sogar fast auf ihm. Die Situation erinnerte mich in makabrer Weise an eine Gruppe Turner, die sich an einem Trainingsgerät austobten.
›Was um Gottes Willen ist passiert?‹, fragte ich schockiert.
›Machen Sie sich keine Sorgen‹, sagte der eine von ihnen, während er Thomas’ Bein nach oben schwang. ›Wir arbeiten nahe am Körper, um die Beweglichkeit voll auszuschöpfen.‹
Schliesslich liessen sie von ihm ab und lagerten ihn auf der Seite, von Kissen gestützt. Ich sah in Thomas’ Gesicht, dass ihm das zuwider war. Und tatsächlich, fünf Minuten später lagen die Kissen auf dem Boden verstreut.

Es kam vor, dass Thomas’ Arm am Gitter des Bettes fixiert war, weil er sich sonst die Trachealkanüle am Hals regelrecht rausgerissen hätte. Wenn ich den Raum betrat, erkannte ich an seiner unruhigen Miene und dem wiederkehrenden Blick auf seinen Arm sofort, dass er auf meine Hilfe hoffte. Und wenn ich mit einfühlsamer Gestik den Kopf schüttelte, wandte er sich enttäuscht ab.
›Ich muss die Regeln befolgen, ansonsten darf ich nicht mehr kommen‹, sagte ich mit ruhiger Stimme, doch so leicht liess er sich nicht besänftigen. Er war von klein auf ein freiheitsliebender Mensch, nun auf diese Art eingeschränkt und von anderen abhängig zu sein, war ihm ein Graus.
›Tanja, Karl, Jürgen und viele andere fragen regelmässig nach dir‹, fuhr ich in solchen Momenten fort. ›Ich erzähle ihnen, dass die Therapeuten von dir behaupten, du wärst ihr bestes Pferd im Stall.‹ Damit konnte ich ihn manchmal ablenken und ihm ein Schmunzeln entlocken.
›Und übrigens, ich habe wieder eine Ladung sauberer Polo-Shirts mitgebracht.‹
Ich verstaute den Stapel Kleidung sorgfältig in der Kommode neben dem Bett, worauf er mir dankbar zunickte. Das war auch eine wichtige Sache für ihn: Dass sein Shirt keine Flecken aufwies. Sobald es das tat, gab er klare Signale, dass er es gewechselt haben wollte. Dann wurde mir stets wieder bewusst: Das ist Thomas! So kenne ich ihn.

Nach ein paar Wochen gelang uns ein grosser Durchbruch: Die Trachea wurde entfernt, sodass Thomas wieder vollständig auf seine eigene Atmung zurückgreifen konnte. Und ein paar Tage später war es so weit; er wurde das erste Mal in den Rollstuhl gesetzt. Thomas keuchte, sackte ein, sein rechter Arm hing schlaff herunter, doch immerhin sass er. Das erste Mal. Wir freuten uns alle zusammen. An diesem Abend fuhr ich mit einem Hochgefühl nach Hause, wie ich es seit dem Tag des Vorfalls selten erlebt hatte. Ich hörte Musik – We are the Champions von Queen – und sang glücklich mit. Mein Stolz auf Thomas war in diesem Moment grenzenlos. In den folgenden Wochen sass er manchmal in seinem Rollstuhl an der Fensterfront und wartete bereits auf meinen Besuch. Jedes Mal gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, streichelte seinen Kopf, nannte ihn beim Namen, hielt seine linke Hand. Und er schaute mich mit seinem sanften Blick an.
›Thomas, richte dich mal auf‹, sagte ich jeweils zu ihm, denn seine Schultern hingen oftmals nach vorne, der Rücken leicht gekrümmt. Ich wollte, dass er Haltung bekommt. Und es dauerte kaum einen Monat, da sass er kerzengerade im Rollstuhl. Er war präsent und hellwach. Er wies eine Rückenmuskulatur auf, über die die Therapeuten staunten. ›Das beste Pferd im Stall‹ war in der Tat der Ausdruck, den sie mehrere Male benutzten.

Eines Abends kam die Pflegerin ins Zimmer und meinte, heute habe sie Zeit und würde Thomas daher gerne baden. Überrascht schaute ich sie an. Wie sollte das funktionieren in seinem Zustand? Thomas hatte seit seinem Hirninfarkt nicht mehr gebadet, dabei tat er das so gerne, an kalten Wintertagen mindestens einmal pro Woche. Immer wieder haben wir gemeinsam bei Kerzenlicht, romantischer Musik und einem Glas Rotwein ein Vollbad genossen. Ganz so wie es in den kitschigen Hollywood-Filmen vorkam. Nun konnte er viele Dinge nicht mehr tun. Vor dem Einschlafen konnte er nicht mehr in einem seiner Bücher lesen und mir dabei genervte Blicke zuwerfen, wenn ich erwähnte, dass ich wegen seiner Nachttischlampe nicht einschlafen konnte. Er konnte nicht mehr Tennis spielen, nicht mehr auswärts essen gehen, nicht mehr auf der Terrasse sitzen und den Nachbarskindern beim Fussballspielen zusehen.
›Sie können gerne dabei sein‹, sagte die Pflegerin zu mir, als ihr Kollege eine Wanne auf Rädern ins Zimmer rollte. Ich antwortete, dass mir nichts lieber wäre. Wir entkleideten ihn, was er ohne Widerstand gewährte. Ich schätze, dass seine Neugierde und Vorfreude ebenso gross wie die meinige war. Behutsam faltete ich seine Hose und sein Shirt und legte die Sachen auf den Stuhl. Dann hoben wir ihn zu dritt in die Wanne, wobei er ein leises Stöhnen von sich gab. Wir schoben die Wanne langsam ins Bad, die Situation wirkte wie ein übergrosser Kinderwagen, dachte ich amüsiert.
Thomas’ Blick lag auf mir, dann wieder auf  der Pflegerin, die ihm zunickte. Wir liessen Wasser einlaufen, wobei ich stetig die Temperatur überprüfte. Das Rauschen wirkte beruhigend. Das warme Licht des Spiegelschranks – obwohl es gewöhnliches Kunstlicht war – gab dem Raum eine wohlige Stimmung. Ich vergass, dass wir uns in einem Therapiezentrum befinden. Meine Gedanken reisten zurück in die Vergangenheit, und mir liefen ein paar Tränen über die Wangen. Thomas so zu sehen, in seiner Ganzheit, nackt, verletzlich … so hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Es brachte mich näher zu ihm, dabei suchte ich seinen Blick und versuchte zu erkennen, ob es ihm gleich erging. Ob er spürte, wie viel er mir bedeutete? Hatte er vielleicht sogar Zweifel, dass ich ihn allein lassen würde? Ich hoffte, dass er wusste, dass ich ihn liebe. Es war eine bedingungslose Liebe, das hatte ich gespürt … damals, an jenem Tag vor seinem 58. Geburtstag.

Bereits gegen Mittag war ich von der Qi Gong-Stunde nach Hause gekommen. Thomas war nicht da gewesen, es beunruhigte mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, änderte sich jedoch, als es einzudunkeln begann. Eine böse Vorahnung beschlich mich und ich begann ihn zu suchen. Zuerst im Wald, wo wir immer entlanggegangen waren. Dann in der kleinen Kapelle. Und schliesslich, als ich wieder nach Hause kam, wusste ich’s. Mittlerweile war die Nacht eingekehrt, sodass ich sofort erkannte, dass im zweiten Stock des Nebenhauses Licht brannte. Das war ungewöhnlich, denn in diesem Haus liessen wir eine Wohnung renovieren. Dort verweilte normalerweise niemand. Mit klarem Kopf, aber rasendem Puls, griff ich nach den Schlüsseln. Eine Minute später trat ich behutsam durch die Wohnungstür, nicht genau wissend, was mich erwartete. Thomas lag auf dem Boden, die Beine angezogen, den Kopf auf dem linken Arm liegend. Ich sah seinen Blick. Ein warmherziger Blick, ein Blick voller Zuneigung. Ich kniete mich neben ihn hin, nur ein paar Sekunden, doch diese Sekunden reichten aus, um zu erkennen, dass uns etwas verband, das niemals reissen würde. Dieser Moment wirkte wie das Auge eines Tornados, so als wären wir umgeben von Licht. Draussen das Geheule, die Zerstörung, und wir mittendrin, gut behütet. Dann konnte ich mich lösen, rannte die Treppe runter und wählte ohne zu zittern die Notrufnummer. Als ich zu ihm zurückkehrte, war er bewusstlos geworden. Ich legte meine Hand auf seine Brust und spürte das, was ich heute als bedingungslose Liebe beschreiben würde. Ich wusste, dass ich an Thomas’ Seite sein werde, egal in welcher Lage er war. An diesen Moment hatte ich oft gedacht, wenn ich an uns gezweifelt habe. Viele Wochen waren vergangen, und wir hatten nicht aufgegeben. Das machte mich so stolz.

Behutsam wusch ich nun seine Haare, kreiste mit dem Wasserstrahl über seinen Kopf, seine Schultern, fragte ihn immer wieder, ob es ihm angenehm war. Er wirkte so glücklich, so entspannt und ich wollte, dass dieser Moment noch lange andauerte. An diesem Abend verabschiedete ich mich wie gewöhnlich, wobei ich mir sicher bin, dass Thomas mit einem wohligen Gefühl einschlief. Ich bin der Pflegerin noch heute – acht Jahre später – von Herzen dankbar, dass sie sich die Zeit für Thomas und schlussendlich auch für mich genommen hatte.«

(Ende der Leseprobe. Die ganze Geschichte ab Kapitel 3 kannst du unter diesem Link kostenlos herunterladen.)