Februar 2023, Zürich (Schweiz)

»Hannah, warum hast du dich um andere gekümmert, aber wenig um dich selbst?«

Ihr Leben ist sorglos, bis ein tragischer Vorfall die Familie erschüttert. Für Hannah, damals erst neun Jahre alt, beginnen herausfordernde Jahre. Sie kümmert sich um ihre Mutter, ohne Rücksicht auf sich selbst zu nehmen. Einen Lichtblick gibt es jedoch: ihre beste Freundin Linnea. Es ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden zweier Mädchen, die sich aufgrund schwieriger Familienverhältnisse miteinander identifizieren und dabei an ihre Grenzen stossen.

*Dies ist eine Leseprobe. Die ganze Geschichte ist in meinem Buch zu lesen. Vollständige Geschichten sind beispielsweise diejenigen von Julian oder Hana.

 

Prolog


»Ich bin Hannah, 23 Jahre alt und zeige kaum jemandem, wer ich wirklich bin. Wenn ich durch die belebten Strassen gehe, begleitet mich eine Frage, die schon lange unbeantwortet ist: Wer bin ich überhaupt? Sind es die Erlebnisse, die uns zu dem machen, wer wir sind? Oder unsere Gefühle? Oder nur unsere Taten? Es schmerzt, das zuzugeben, aber in den letzten Jahren habe ich mich vom Leben verschlossen. Ich will wieder leben, das nehme ich mir fest vor. Heute Morgen ist vielleicht der Anfang davon.

Es ist wenige Minuten vor zehn, als ich die Parkanlage betrete und den ausgedehnten Kiesweg neben dem Fluss entlanggehe. Ich blinzle zur Sonne hinauf, die an diesem Tag im August ein wildes Schattenmuster durch die aufragenden Bäume auf die Wiese zeichnet. Noch immer fühle ich mich schlecht, weil ich das ursprünglich geplante Treffen vor zwei Wochen kurzfristig abgesagt hatte und hoffe, dass er mir das nicht übel nimmt.
Als er auf mich zukommt, den Rucksack über die rechte Schulter geworfen, versuche ich seinen Blick zu lesen: leichte Verlegenheit, vielleicht Schüchternheit. Ein Teil in mir will mit Vorfreude auf ihn zugehen, ein anderer Teil will weglaufen. Erste Momente wie diese lösen in mir gewöhnlich Unbehagen aus – noch immer –, doch ich gebe mir Mühe, dies zu verbergen. Als er vor mir steht, geben wir uns die Hand. Ein sanfter Druck. Anschliessend setzen wir uns auf eine Bank im Schatten.

›Warum hast du dich auf den heutigen Tag eingelassen?‹, fragt er nach ein paar Minuten, in denen wir über Alltägliches geredet haben.
›Worauf ich mich eingelassen habe, das weiss ich noch gar nicht so genau.‹ Ich überlege, und er gibt mir die Zeit dazu. ›Mehr als zehn Jahre ist es her, seit mein Leben eine unerwartete Wendung nahm. Für meine Familie begann eine schwierige Zeit, unsere Unbeschwertheit bekam Brüche, die bis heute spürbar sind. Ich wurde früh in das Leben mit der Verantwortung eines Erwachsenen geworfen. Vielleicht hilft es mir, das Geschehene besser zu verstehen, wenn ich darüber erzähle.‹
›Du hast mir geschrieben, dass du deine Mutter gepflegt hast, richtig?‹
›Vor allem in den letzten zwei Jahren. Meine Mutter ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Doch diese Nähe ist für mich nicht immer gesund gewesen.‹
Den letzten Satz auszusprechen schmerzt, und ich spüre, wie mich Traurigkeit überkommt. Ich liebe meine Mutter, das wollte ich ihr immer wieder beweisen. Mein Gegenüber bleibt gelassen, er drängt mich nicht. Es ist eine gute Voraussetzung, denke ich mir.
›Hast du Geschwister, denen es ähnlich geht?‹, fragte er schliesslich.
›Ich habe einen älteren Bruder. Er ist vor Jahren ausgezogen, um sein eigenes Leben zu leben. Wir stehen uns nah. Eigentlich hätte ich noch einen zweiten Bruder, aber er ist vor dreizehn Jahren verstorben.‹
›Ist dies der Wendepunkt, den du vorher erwähnt hast?‹
Ich nicke, und er tut es mir gleich.
›Hast du versucht, es zu verdrängen?‹
Ich schüttle den Kopf. ›Ich kann nicht verdrängen, weil ich täglich damit konfrontiert werde.‹
›Ich verstehe‹, sagt er. ›Deine Freunde wissen davon?‹
›Ich spreche wenig darüber, höchstens mit meiner besten Freundin. Über die Schwere, über die Orientierungslosigkeit in meinem Leben.‹
›Und über die Freuden?‹
Ich muss schmunzeln. ›Natürlich auch das.‹
In diesem Moment winkt er ab und verzieht das Gesicht. ›Entschuldige, das war unsensibel von mir.‹
›Überhaupt nicht‹, erwidere ich und meine es auch so. ›Freude gibt es auch in meinem Leben und zwar reichlich. Nur sehe ich dies an gewissen Tagen kaum.‹
›Fällt es dir am Morgen manchmal schwer, aufzustehen?‹
›Ja. An diesen Tagen fühle ich mich als wäre ein Stein in mir.‹
›War es heute auch schwer?‹
Ich nicke. ›Dass ich dir vor zwei Wochen abgesagt habe, lag daran, dass ich keine Kraft aufbringen konnte. Ich las deine Nachricht nochmals und spürte, dass ich nicht imstande bin, dich zu treffen. Tut mir leid. Immerhin habe ich aufgehört, mich dafür zu schämen.‹

Ich denke an Linnea, wie sie mich gestern am Oberarm kniff, als ich ihr bauchfreies Top mit ›durchaus tragbar‹ kommentiert hatte. Wie sie dabei meine Stimme nachäffte, eine halbwegs gekonnte Pirouette drehte und ihre blonden Haare nach hinten schwang. Das zwingt mir ein Lächeln ins Gesicht. Alex schlägt vor, eine Pause zu machen und ein paar Schritte am Ufer entlangzugehen. Soweit ich es in Erinnerung habe, meinte er vorgängig, dass wir uns heute nur oberflächlich kennenlernen würden. Doch ich schätze, wir sind beides Menschen, die sogleich in die Welt der starken Emotionen und prägenden Erlebnisse eintauchen wollen. Das bringt mich zurück zur Frage, wer ich eigentlich bin. Ich habe bereits so viel erlebt, dass ich es selbst kaum glauben kann, wenn ich mir dies in Erinnerung rufe.«

(Ende der Leseprobe)