Juni 2022, Basel (Schweiz)

»Isabel, wie hast du erkannt, dass du ihn doch noch geliebt hast?«

Als junge, schüchterne Frau verliebt sie sich in ihn, obwohl sie noch nicht einmal seinen Namen kennt. Ein Mann voller Selbstsicherheit und Charisma; ein Mann aus einer zerrütteten Familie. Die ersten Jahre sind sorglos, aber als der Alltag einkehrt, distanzieren sie sich. Isabel fühlt sich zunehmend missverstanden und alleingelassen. Doch als ihr Mann schwer erkrankt, erkennt sie, dass ihre Liebe stärker ist als geglaubt. Und dass ihre Sicht nur die halbe Wahrheit zeigt.
Nun spricht Isabel das aus, was sie ihm gerne noch gesagt hätte.

(Lesedauer: ca. 25 Minuten; alle Namen geändert)
(Text & Foto: Alexander Rodshtein; Unterstützung Lektorat & Korrektorat: Natalie M.)

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Kapitel 1


»Weisst du noch, als wir uns 1978 das erste Mal begegneten und wie peinlich mir das war? Es war ein milder Abend im Frühling, als ich oben in meinem abgedunkelten Mansardenzimmer sass und wie üblich bereits mein Pyjama angezogen hatte. Vom Erdgeschoss her drangen gedämpfte Stimmen, durch mein gekipptes Fenster hörte ich das Rascheln der Baumwipfel. Ich mochte es, im Schein der Schreibtischlampe zu lernen, es hatte was Friedvolles an sich.

Ich war gerade in das Thema Blutgruppen vertieft; mit welchen Systemen sie bestimmt werden konnten und wie deren Verteilung in der Bevölkerung aussah. Dabei entsprach es eigentlich nicht meiner Natur, lange und konzentriert in einem Lehrbuch zu lesen. Ich dachte sehnsüchtig an meine Clique: eine bunt gemischte, verspielte Truppe aus der Stadt. Jana, Manuela, Elfriede … wir hatten uns im Jugendalter kennengelernt, klapperten an den Wochenenden die Discos ab. Auch an diesem Abend hatten die Mädels noch rausgehen wollen, aber ich musste mich unbedingt für die anstehende Prüfung vorbereiten. Bevor ich dich traf, war ›Chez Pierre‹ einer meiner bevorzugten Clubs gewesen. Der Discosound der Siebzigerjahre – das war noch richtige Musik gewesen – brachte mich ohne Mühe auf die Tanzfläche. Dort war ich eine andere Isabel; eine Isabel, die sich hingeben konnte und wenig Scheu zeigte.

Ab und zu kam ich mit Männern ins Gespräch, manchmal entstanden lose Kontakte, die ich kaum als Beziehungen bezeichnen könnte. Witzig war, dass meine drei Jahre jüngere Schwester und ich eine ähnliche Stimme besassen. Wenn eine von uns Schluss machen wollte, sich aber davor zierte, rief einfach die andere über das Festnetz beim entsprechenden Mann an und die Sache hatte sich erledigt. Solche Geschichte schweissten meine Schwester und mich zusammen, jedoch geschah dies erst gegen Ende unserer Jugendzeit. Früher hatten wir manchmal gestritten, wobei meine Schwester genau gewusst hatte, wie sie mich zähmen konnte: Ich liebte meine Puppen, und als meine Schwester diese an die Wand schmiss, hörte ich augenblicklich auf mit meinen Provokationen. Noch heute habe ich die Angewohnheit, dass ich Puppen aufrecht hinsetzen muss, wenn ich eine irgendwo liegen sehe.
Ja, ich war ein aktives Kind gewesen, das Lernen für die Schule hatte ich nie gemocht. Doch mittlerweile war dies ein wenig anders. Die Motivation, stillzusitzen und aufmerksam zu lesen, entsprang nämlich meinem sehnlichen Wunsch, Krankenpflegerin zu werden.

Aus diesem Grund war ich an diesem Abend in das Buch auf meinem Schreibtisch vertieft, als ich die Stimme meines Vaters vernahm. Seine Stimme hatte häufig diesen sanften, fast bittenden Tonfall. Ich hörte, wie er zuerst meine Mutter, anschliessend meine Schwester nach unten ins Wohnzimmer rief. Anscheinend hatten wir Besuch, aber mich interessierte das wenig.
›Isabel, kommst du auch schnell?‹
Widerwillig liess ich vom Lesen ab und ging nach unten. Die Treppen gaben stets dieses entlarvende Knarzen von sich, ich mochte das gar nicht. Als ich schliesslich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, sah ich zwei Männer, die neben meinem Bruder auf der Ledercouch sassen und sich angeregt unterhielten. Ein unwohles Gefühl machte sich in mir breit, schnell zog ich die Tür wieder zu, denn ich dachte, ui, im Pyjama vor diesen Männern … Mein Bruder wollte mit zwei Freunden eine Rockband gründen, würde ich im Nachhinein erfahren. Und einer dieser Freunde warst du.
›Das wird ja immer besser‹, sagtest du, als ich ein paar Sekunden später doch reinging. Vor der Türe zu warten, wäre noch peinlicher gewesen. Du trugst schulterlanges Haar, hattest ein herzhaftes, ansteckendes Lachen, das nicht aufgesetzt sondern ehrlich und hemmungslos wirkte. Du trugst ein Hemd mit Lederkrawatte und eine Stoffhose. Mir fiel auf, dass du grün-braune Augen hast, was dich noch attraktiver machte. Ich blickte dich an, sagte kurz Hallo, blieb ansonsten aber still. Einen Augenblick später wich ich deinem Blick aus. Selbstsicherheit war noch nie meine grosse Stärke gewesen, wie du weisst. Gerne hätte ich was Kluges gesagt oder gefragt, wie du heisst und was ihr vorhabt. Aber ich brachte kein Wort heraus.
Glücklicherweise konnte ich gleich wieder hochgehen. Ein paar Minuten bliebst du in meinen Gedanken hängen, doch bereits am nächsten Tag hatte ich dich beinahe wieder vergessen.

Ich weiss nicht, ob es dich erstaunt hat, dass ich mich so hatte vorführen lassen. Doch mit meinen 22 Jahren tat ich noch immer, was mir gesagt wurde, denn ich war gut behütet aufgewachsen. Mein Vater war streng religiös, er meinte, wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die linke hin. Mit seinen Mitmenschen musste man liebevoll umgehen und ihnen nie etwas Böses wollen. Das war seine Devise.
In der Freizeit beschäftigte er sich intensiv mit der Musik, komponierte Stücke und lehrte uns, Instrumente zu spielen. Eigentlich hätte ich Klavier bevorzugt, aber er meinte, dass die Geige die Königin der Instrumente sei. Meine Schwester spielte ebenfalls Geige, mein Bruder Cello, und so war es selbstverständlich, dass wir an Festtagen ein Ständchen zum Besten gaben.
Ich als älteste von drei Geschwistern sollte mit gutem Beispiel vorangehen: Immer artig sein, sich immer zurücknehmen und bei Streitigkeiten immer zuerst die anderen anhören. Doch ich wollte das nicht, ich wollte kein Vorbild sein müssen, ich wollte einfach nur Ich sein. Damals setzte ich mich selten zur Wehr. Wenn mir in der Schule ein Klassenkamerad ein Bein gestellt hatte, musste ich es wohl verdient haben.

Zu Hause besass ich zudem zwei Meerschweinchen, die ich ständig umsorgen wollte. Karotten füttern, streicheln, ja sogar das Ausmisten des Stalls in meinem Zimmer machte mir Spass. Ich mochte den intensiven Geruch von Stroh und Heu, und liebend gerne hätte ich mal eine Nacht im Stroh verbracht – bis heute ist das nicht passiert.
Zusätzlich hatte ich eine Schildkröte gehabt, die mir durch mein Zimmer gefolgt war und an meinen Haaren spielte oder an meinem Ohr knabberte, wenn ich mich auf den Teppichboden legte. Tiere sind mir ans Herz gewachsen, man versteht sich ohne Worte – ehrlich und bedingungslos; es war mir lange Zeit ein Rätsel gewesen, wie eine solche Beziehung ohne Worte überhaupt funktionieren kann.

Als wir als Familie in meiner Jugendzeit noch in der Stadtwohnung gelebt hatten, hatte meine Grossmutter zuoberst ihr Zimmer bezogen. Manchmal, wenn ich mich mit meinen Eltern zerstritten hatte, ging ich zu ihr hoch und sie würde zwei Sessel zusammenschieben, sodass ich über Nacht bei ihr bleiben konnte. Wir redeten selten über unsere Familie, eigentlich kann ich gar nicht mehr genau benennen, über was wir redeten. Wir verstanden uns, vielleicht war es ähnlich wie mit dir, dass wir dazu nur wenige Worte brauchten.
Meine Grossmutter war eine dominante Persönlichkeit gewesen und hatte in unserer Familie das Sagen. Sie kochte stets für uns, und was auf dem Teller war, musste gegessen werden. Doch für mich machte sie manchmal eine Ausnahme und kochte Karotten oder Erbsen, wenn ich den Rosenkohl Nase rümpfend beiseiteschob. Denn ich war ein Schleckmaul, das hatte ich wohl von meinem Vater geerbt. Als ich eines Tages eine Schachtel Pralinen bekam, platzierte ich diese absichtlich im obersten Tablar der Küche, wo ich nur mit einer Leiter hingelangen würde. Denn ansonsten hätte ich die Schachtel vermutlich in einem Tag leergegessen gehabt.

Als ich 20 war, wurde meine Grossmutter schwer krank, und nachdem sie ins Krankenhaus gebracht worden war, heulte ich wie selten zuvor. Ich besuchte sie jeden Tag nach der Arbeit, sass hilflos neben ihrem Bett, denn sie war kaum ansprechbar. Ich wünschte, sie würde meine Anwesenheit wenigstens mit einem scheuen Lächeln registrieren. Ihr Lächeln, das sie nur für Menschen übrig hatte, die ihr wirklich wichtig waren. Doch nun gab es in ihrem Gesicht keine Regung. Da waren nur die kaum merklichen Atembewegungen. In diesen Momenten erschien mir ihr Schicksal schrecklich ungerecht, zudem ich das Gefühl hatte, nicht im gleichen Masse für sie da sein zu können, wie sie es für mich getan hatte.
Es war das erste Mal, dass ich hautnah miterlebte, wie ein Mensch dem Lebensende zugeht. Ich hatte mir über dieses Thema noch nie wirklich Gedanken gemacht, warum auch? Mein Leben begann Fahrt aufzunehmen, ich war voller Energie und Tatendrang.

Eines Tages kam ein Pfarrer vorbei; warum genau, wusste ich nicht.
Ich fragte ihn: ›Was kann ich tun, damit es meiner Grossmutter besser geht?‹
Er sagte: ›Seien Sie einfach bei ihr. Halten Sie ihre Hand, wenn sie es möchte.‹
Dieser Ratschlag würde mich noch Jahrzehnte lang begleiten. Ich lernte, dass nicht alle es mochten, wenn man ihre Hand hielt. Doch fast alle schätzten es, wenn man in ihren letzten Stunden bei ihnen war. Ich denke, meine Grossmutter spürte, dass ich sie verstand und es ihr nicht übel nahm, wenn sie den Mut finden würde, gehen zu können.
Bei der Gedenkfeier, als wir ihre Asche vergruben, weinte ich bitterlich. Ich lernte, dass das Loslassen zum Erwachsenwerden dazugehört. Ab diesem Moment stand für mich fest, dass ich Menschen in Zeiten körperlichen und seelischen Schmerzens begleiten wollte. Seit ich denken konnte, wollte ich Kinder betreuten, doch nun war Krankenpflegerin mein neuer Wunschberuf geworden.«

 

Kapitel 2


»Nach dem Abend, als ich dir das erste Mal begegnet war, verstrich eine Woche, bis es schliesslich an unserer Haustür klingelte. Ich sass oben am Esstisch und strickte an einem Babypollover für eine meiner Freundinnen. Ich hörte, wie mein Bruder öffnete und du ihn fragtest, wo denn seine Schwester sei.
Mir wurde mulmig zumute. Ja, ich war mir sicher gewesen, dass ich dich ein zweites Mal sehen würde; zufälligerweise vielleicht, wenn du mit meinem Bruder unterwegs sein würdest. Aber Hoffnungen hatte ich mir keine gemacht. Das, was später noch mit uns passieren sollte, darüber fantasierte ich gar nicht erst, obwohl ich durchaus eine Tagträumerin war. Dass du nun nach mir fragtest, kam mir unwirklich vor. Ich konnte mich gerade noch aufrecht hinsetzen, als du auch schon vor mir standest – locker, mit den Händen in den Hosentaschen. Auch dieses zweite Mal wich ich deinem Blick aus, wenn auch nicht mehr so sehr wie beim ersten Mal.
›Wollen wir eine kleine Ausfahrt im Mustang machen?‹, fragtest du, als wäre es das Normalste der Welt. Ich nickte nur, natürlich wollte ich, doch ich versuchte meine Freude nicht allzu offensichtlich zu zeigen. Denn ich hatte eine mehrmonatige Beziehung hinter mir, was daran gescheitert war, dass ich zu anhänglich gewesen war. Die Erinnerung daran, das erste Mal richtig Liebeskummer zu haben und menschlicher Nähe nachzutrauern, hallte unangenehm in mir nach. Das wollte ich auf keinen Fall wiederholen, ich wollte nicht bedürftig wirken.

Dein Auto übte keine besondere Faszination auf mich aus, muss ich gestehen. Doch dein Blick auf die schlanke, weisse Karosserie sprach Bände, du warst stolz, diesen Wagen zu besitzen. Du lächeltest mich an, dann stiegen wir wortlos ein.
Wir fuhren ohne bestimmtes Ziel, genossen die vorbeiziehenden Grünflächen, die immer wieder durch imposante Felsvorsprünge unterbrochen wurden. Wir redeten wenig, und obwohl wir uns kaum kannten, fühlte sich das Schweigen mit dir angenehm und beruhigend an. Du wirktest selbstsicher und hast nie versucht, eine künstliche Unterhaltung herbeizuführen. Unsere Kommunikation spielte sich häufig zwischen den Zeilen ab. Ein eindringlicher Blick, ein Zunicken, später vielleicht eine sanfte Berührung. Das Schweigen konnte ein Segen sein, oder aber auch das Gegenteil, wenn man es nicht unter Kontrolle hatte. Es gibt verschiedene Arten des Schweigens, nicht alle sind wünschenswert. Damals reizte mich das Abenteuerliche, denn als wir losgefahren waren, kannte ich deinen Namen noch immer nicht.
In einer Kurve hast du richtig Gas gegeben, und ich war nicht sicher, ob es mit klarer Absicht war. Wir hatten damals bekanntlich noch keine Sicherheitsgurte. Ich wurde herumgeschleudert und landete beinahe auf dir. Das gefiel mir.
Wir fuhren noch eine Weile weiter durch die Strassen, anschliessend begaben wir uns zu dir nach Hause.

›Was macht er schon wieder hier?‹, fragte meine Mutter, als du ein paar Tage später bereits wieder in unserem Wohnzimmer standest. Meine Mutter hat dich anfangs für einen wilden, ungezähmten Mann gehalten, der mir nicht zu nahe kommen sollte. Doch ich wusste, dass du tief in dir drin ein weiches Herz hast.
Du hast ihr ganz ruhig geantwortet: ›Keine Angst, ich bringe Brot und Wurst selber mit.‹
Ich glaube, dass meine Familie eine grosse Lücke bei dir füllte. Unser Zuhause musste für dich ein geborgener Ort sein, ein Ort, wo man zusammenhielt. Du warst mit 16 ausgezogen, da deine Mutter dir nur Salami-Brote aufgetischt hatte. Seither wohntest du in dieser 1-Zimmer-Wohnung, mit einer Küche ohne Fenster, jedoch mit einem grossräumigen Zimmer, wo zwar kein Esstisch stand, dafür ein breiter Bürotisch, an dem wir stets assen.
Deine Schwester ging anschaffen, du hast mir erzählt, dass du sie eines Nachts suchen gehen musstest. Ich glaube, sie war damals erst 15 Jahre alt gewesen. Ich denke mir im Nachhinein, dass weil deine Schwester eine Prostituierte gewesen war, das vielleicht Einfluss darauf hatte, wie du Treue definiert hast. Dass dein Vater die Familie verliess, als du noch ganz klein warst, musste zur Folge gehabt haben, dass dir ein männliches Vorbild fehlte.

Weisst du, ich tat unschuldig und gab mich nach aussen brav, in manchen Momenten gar unwissend, doch ich wusste genau, was ich tat. Du hattest mir von Leonie erzählt. Wenn du bei deiner Mutter warst, standest du manchmal auf dem Balkon und hast mit ihr über die Strasse hinweg geplaudert. Denn ihre Wohnung war gleich gegenüber und besass ebenfalls einen Balkon. Diese Vorstellung passte mir gar nicht, zudem Leonie die Sängerin eurer Rockband werden sollte. Deshalb wollte ich so oft als möglich bei der Renovation eures Bandraumes in diesem heruntergekommenen Viertel mithelfen, verputzte Wände, obwohl ich das noch nie gemacht hatte. Einmal bohrte ein Freund von dir ein Loch in die Wand, erwischte eine Stromleitung, hing am Strom und konnte sich nicht mehr losreissen.
›Zieht den verdammten Stecker!‹, schrie er zu dir, worauf du sofort reagiert hast.
Es war eine ungewisse Zeit gewesen; Leonie, auf die ich so stark eifersüchtig war, sah ich jedoch nur ein einziges Mal, als sie kurz vorbeischaute. Aus der Bandgründung ist schliesslich nichts geworden, dafür umso mehr aus dir und mir. Das sollte mir recht sein.

Meine Mutter hatte dich schliesslich akzeptiert, nach rund ein Dutzend Besuchen musstest du dein Essen nicht mehr selber mitbringen. Viele Abende verbrachten wir in meinem Zimmer, haben geredet, Spiele gespielt … unser Alltag war ruhig, aber schön. Wir unternahmen Ausfahrten mit dem Mustang, fuhren Pässe hoch, übernachteten in Pensionen, genossen das Essen auf den Terrassen der Gasthäuser. Du verbrachtest wenig Zeit mit Freunden, das war mir bald aufgefallen. Du warst ein Einzelgänger, ich glaube, du hattest Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen. Dennoch warst du sehr beliebt, bei der Arbeit lobten dich die Kollegen als freundlich, herzlich und humorvoll. Doch ich weiss sehr wohl, dass zwischen einer guten Gesellschaft und einer tiefen Freundschaft Welten liegen können.

Ein Jahr später zogen wir zusammen in eine gemütliche Wohnung nahe der Stadtmitte, unweit von meinen Eltern entfernt. Inzwischen hatte ich im kantonalen Krankenhaus auf der Dementenabteilung begonnen zu arbeiten. Wenn ich Spätdienst hatte, mich bis um elf Uhr nachts um die Patienten kümmerte, schliesslich mit müden Augen das Gebäude verliess, stand auf dem Vorplatz stets dein weisser Mustang.
›Und, wie war’s?‹, fragtest du jeweils mit sanfter Stimme, als ich eingestiegen war und wir uns geküsst hatten.
›Anstrengend‹, würde ich manchmal erwidern und meinen Kopf auf deine Schultern legen.
›Erzählst es mir morgen, okay?‹ Du drehtest den Schlüssel, der Motor sprang an, und wortlos fuhren wir nach Hause.

Es war in dieser Zeit, als ich erfuhr, dass eine Freundin ihren Hund zurück ins Tierheim bringen musste, da sich ihr Arbeitspensum erhöht und sie darum zu wenig Zeit für ihn hatte. Es wäre für den Mischling das zweite Mal gewesen, dass er auf einen neuen Besitzer hätte warten müssen. Mir tat es im Herzen weh, im Heim die Tiere mit ihren sanftmütigen, grossen Augen zu sehen; wie sie hofften, dass jemand sie aufnimmt.
Somit ging ich nach Hause und bettelte dich an, ob wir den Hund meiner Freundin übernehmen können.
›Das würde uns guttun, dann müssen wir jeden Tag an die frische Luft‹, fügte ich an, als du darüber nachdachtest.
›Also gut, lass uns das machen‹, sagtest du, worauf ich dir dankbar um den Hals fiel. Du mochtest Tiere ebenso gerne wie ich.

Eines Tages sagten wir: ›Lass uns zum Juwelier gehen und Ringe aussuchen.‹
Es war eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass wir zusammengehörten. Ein halbes Jahr später, 1981, heirateten wir, am Tag danach brachen wir für drei Wochen nach Amerika auf. Selbst im Flieger trugst du einen Anzug, das fand ich amüsant.
›Ich möchte nicht, dass man sieht, dass ich ein Tourist bin‹, meintest du.
Wir besuchten deinen Onkel, der vor vielen Jahren nach Los Angeles ausgewandert war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hättest du dein Leben ebenfalls jenseits des grossen Teichs aufgebaut. Doch deine Mutter war dagegen gewesen. Es stimmt mich nachdenklich, wenn ich daran denke, was gewesen wäre, hätte sie eingewilligt. Du wärst als Jugendlicher nach Amerika ausgewandert, somit hätten wir uns nie kennengelernt. Hätten du und ich ein besseres Leben gelebt? Ich wage nicht, dies zu beantworten, denn es macht mich nur undankbar.«

 

Kapitel 3


»Rund 35 Jahre später hatte sich Vieles in unserem Leben geändert, gleichzeitig aber auch wenig. Du kamst von der Arbeit nach Hause wie du es immer tatst. Wir assen zu Abend und setzten uns vor den Fernseher. Ich blickte zu dir, hoffte auf eine Reaktion, doch du warst auf die Nachrichten fokussiert. Mein Kopf spielte Szenen ab, die sich im Pflegeheim zugetragen hatten. Ich war zufrieden, dass ich nach dem Grosswerden von Andreas und Laura wieder meiner liebgewonnenen Arbeit nachgehen konnte. Doch durch den Kontakt mit den dementen Menschen, die in ihrer eigenen, zuweilen schönen Welt lebten, hatte sich etwas in mir verändert. Und das musste ich nun aussprechen.

›Ich werde mich bei der Sterbehilfe anmelden‹, sagte ich zu dir.
Ich glaubte ein Zucken deines Mundwinkels zu erkennen; ich kannte dich gut genug um zu erahnen, was deine Antwort sein würde.
›Das wirst du nicht tun.‹
›Warum nicht?‹
›Das will ich nicht hören, keine Diskussion. Du wirst dich dort nicht anmelden.‹
Enttäuscht wandte ich mich ab und tat so, als wäre die Sache auch für mich erledigt. Dass deine Meinung, die Sterbehilfe wäre etwas Unmoralisches und Egoistisches, weit verbreitet ist, würde ich später noch zu spüren bekommen. Ich stimme zu, es ist eine einschneidende Entscheidung. Doch es ist eine, die ich für mich selbst getroffen habe.

Dass ich im Pflegeheim in die Abteilung für demente Menschen zugeteilt worden war, betrachtete ich als Glücksfall. Die Bewohner waren charakterlich so unterschiedlich wie nur irgend denkbar: Manche beschwerten sich die ganze Zeit über das Essen, wollten ohne Jacke im Winter abhauen oder zwickten einen beim Waschen in den Arm. Andere wiederum lachten fast ununterbrochen oder winkten einem beim Vorbeigehen zu. Die Arbeit mit diesen Menschen forderte mich körperlich und mental und gab mir Erinnerungen, die ich nicht missen möchte.

Eine Frau, die schon mehrere Jahre im Heim gewohnt hatte, besuchte ich regelmässig nach meiner Schicht. Ich klopfte jeweils an ihre Tür, doch wie immer würde sie nicht reagieren, da sie schlecht hörte. Somit ging ich ohne zu zögern rein und setzte mich in den Sessel neben sie. Das Zimmer war gemütlich und hell eingerichtet. Auf dem Nachttisch befand sich ein Foto von ihr und ihrem verstorbenen Mann bei der Hochzeitsfeier. Ihr Mann hatte bis zu seinem Tod mit ihr in diesem Zimmer gelebt, ich hatte ihn ebenfalls gepflegt.
›Hallo, Isabel, da kommst du wieder, wie schön‹, sagte die Frau bei einem meiner Besuche.
›Hallo Ruth, wie war das Abendessen heute?‹, fragte ich sie.
Da fuhr sie leicht zusammen, als ob sie sich erschreckt hätte. Ihre Miene wurde ernst, dann lächelte sie wieder und flüsterte: ›Bekommst du nicht Probleme, wenn wir uns Du sagen?‹
Ich kicherte. ›Nein, das macht nichts, wir sind alleine, uns hört ja niemand.‹
›Da bin ich beruhigt, Gott sei Dank.‹
Danach redeten wir eine Weile oder schauten einfach nur aus dem Fenster auf die gegenüberliegenden Wohnblöcke. Sie war wie eine gute Freundin, zu der ich immer gehen konnte, wenn ich mich niedergeschlagen fühlte.

Doch nicht mit allen Menschen konntest du so unbeschwert reden wie mit Ruth. Wir begleiteten diese Menschen auf ihrem letzten Lebensabschnitt, das wurde mir immer wieder bewusst. Und irgendwann würde dieser Abschnitt zu Ende sein. Ich erkannte, wie eng Leben und Tod miteinander verbunden sind. Ein ewiger Kreislauf, die Gegenwart bekommt durch unsere Endlichkeit erst ihre Bedeutung. Und dieses Ende des Lebens sah bei allen unterschiedlich aus. Manche schliefen friedlich ein, manche rangen mit sich selbst, als wäre es ein Kampf, den man nicht verlieren dürfe. So war es mit einer anderen Frau, zu der ich über Wochen hinweg jeden Arbeitstag ans Bett sass. Die Situation erinnerte mich stark an meine Grossmutter. Wie hilflos ich mich damals gefühlt hatte und zugegebenermassen es noch immer tat. Ich nahm die Hand der Frau, drückte ihre kraftlosen Finger. Sie starrte zur Decke, in ihrem Gesicht erkanntest du die Anspannung. Die Augen zeigen ohne Zweifel, ob jemand entspannt ist oder nicht. Meine Kollegin und ich weinten oftmals an ihrem Bett, weil ihr Schmerz auch der unsere war. Die Frau verweigerte das Essen und Trinken, und doch konnte sie nicht loslassen. Ich bekam Angst, dass es mir genauso ergehen könnte. Dass ich nicht mehr in der Lage wäre, klar zu denken und damit ein Lebensende haben würde, das mich und meine Liebsten leiden lassen würde. Dieses Erlebnis legte den Grundstein, dass ich mich bei der Sterbehilfe anmeldete; gegen deinen Willen. Doch ich war nicht mehr die Isabel, die mit sich machen liess, was andere wollten. Ich begann, für mich einzustehen.

Du wirst dich vermutlich daran erinnern, als ich an einem anderen Tag heulend im Schlafzimmer sass, als du nach Hause kamst.
›Was ist los?‹, fragtest du mit ruhiger Stimme und bliebst im Raum stehen.
Ich erzählte dir, dass ich beim Spaziergang mit Filu zurechtgewiesen worden war, weil er den Dackel einer älteren Passantin angeknurrt hatte. Obwohl ich ihn sofort an die kurze Leine genommen hatte, hatte sie gesagt, dass unser Hund gefälligst in professionelle Hände gehöre. Ich hatte wortlos genickt, hatte daran gedacht, dass Filu ein schwieriges Leben im Heim gehabt hatte und niemals dorthin zurückkehren sollte.
›Lass dir doch nicht alles gefallen‹, hast du zu mir gesagt. Für einen Augenblick verharrten wir schweigend, mein verwässerter Blick auf dem Boden … dann gingst du aus dem Zimmer.

Vielleicht weil ich mir ab dann nicht mehr alles gefallen liess, begannen wir uns noch stärker zu distanzieren. Es waren die alltäglichen Situationen, die ebenso dazu beitrugen. Einmal, als du vom Einkaufen zurückkamst und zwei Packungen Salat, mehrere Liter Milch und ein Dutzend Äpfel ausgepackt hast, fragte ich: ›Warum hast du so viel eingekauft? Wir sind doch nur zu zweit.‹
›Warum reklamierst du nun denn wieder?‹
Eine Aussage, die ich oftmals zu hören bekam, wenn ich einen Gedanken aussprach, der mir wichtig war und uns beide betraf. So auch als ich dir eröffnete, dass ich in meiner beruflichen Laufbahn gerne einmal Aids-Kranke betreuten möchte.
›Das kommt nicht in Frage‹, hast du gemeint.
›Warum denn nicht?‹
›Du wirst dich anstecken.‹
Damit war die Diskussion vom Tisch. Fast jede Diskussion um uns war eigentlich gar keine Diskussion. Sondern ein Verstummen, das ich überwiegend akzeptiert und geschluckt habe.

Aus diesem Grund sprach ich immer seltener darüber, was mir wichtig war, was mich bewegte und was ich mir von dir wünschte. Unsere Beziehung war zur Gewohnheit geworden, der Alltag mit den Kindern, Enkeln und der Arbeit verwischte unsere wenigen gemeinsamen Momente ins Belanglose. Wir hatten unzählige schöne Momente erlebt: Hüttenbauen im Wald, Wanderungen an Bergseen, Kindergeburtstage, lange Spaziergänge mit Filu, Ausfahrten mit dem Mustang … doch nun bemerkte ich, wie wir uns schleichend veränderten. Es war eine langsame Veränderung, doch sie schien schwer aufzuhalten. Es ist ein drückender Zustand, zu sehen, wie eine zwischenmenschliche Beziehung, die so lange gehalten hat, der vermeintlichen Kontrolle entgleitet.

So bemerkte ich, wie du in den Abendstunden zunehmend am Handy geschrieben hast.
›Mit wem schreibst du denn?‹, fragte ich einmal.
›Mit einer Bekannten.‹
Irgendwie hatte ich es nie wirklich wahrhaben wollen. Über deine Friseurin erfuhr ich, dass du immer wieder Frauen auf eine vertrautere Art und Weise kennenlerntest, als mir lieb war.
›Was haben diese Frauen, was ich nicht habe?‹, fragte ich dich eines Tages.
›Sie reklamieren nicht‹, war deine Antwort.

Viele Male lag ich heulend im Bett, die andere Seite leer, weil du dich vermutlich mit jemandem getroffen hast. Und als du schliesslich doch kamst, lagen wir wie Bruder und Schwester nebeneinander. In diesen Momenten nahm ich mir manchmal fest vor, die Scheidung einzureichen. Ich dachte über die Worte nach, die ich dir sagen würde. Ich stellte mir vor, wie unsere Kinder reagieren würden. Die Angst, was danach kommen würde, bedrückte mich. Ich wusste nicht, was mit dem Haus geschehen würde, was mit mir geschehen würde. Fast mein gesamtes Leben war ich von einem mir wichtigen Menschen umgeben gewesen, doch wenn nun alles in die Brüche ging, war ich allein. Dieser Gedanke an die Zukunft war vielleicht noch das, was mich zurückhielt.

Weisst du, an manchen Tagen kamst du nach der Arbeit nach Hause, hast die Einkäufe in der Küche verstaut, hast gekocht oder die Wohnung geputzt und aufgeräumt. Wenn die Enkelkinder zu Besuch waren, hast du mit ihnen an der Murmelbahn gebaut oder im Garten den Rasensprenger angemacht, damit sie unter den Wasserstrahlen hin und her rennen konnten. Und ich beobachte die Szenerie wie neben mich getreten und dachte: Will ich das wirklich alles zerstören? Wartet wirklich etwas Besseres auf mich als das hier? Ich habe das Gute gesehen in dir, manchmal zu sehr. Um dieses Konstrukt zu halten, haben wir uns beide stark verletzt, das schien der Preis, den wir zahlen mussten.«

 

Kapitel 4


»Ich kann mich nicht erinnern, ob das Wochen, Monate oder gar Jahre so weiterging. Während viele Erlebnisse bereits nach Wochen verblasst waren, sehe ich Momente, in denen ich unerwartete Emotionen verspürte, klar vor mir. So auch an jenem Tag, als ich im Bett kurz vor dem Einschlafen war.

Du standest im Schlafzimmer, schautest mich an und sagtest: ›So, jetzt.‹
›Was jetzt?‹, fragte ich müde und verwirrt.
Ohne zu antworten gingst du aus dem Zimmer, ich folgte dir. Im Bad setztest du dich auf die Klobrille, aber ohne die Hose runtergezogen zu haben. Sofort standest du wieder auf, gingst mit trägen Schritten an mir vorbei zurück ins Schlafzimmer. Ich sah, wie du den Lichtschalter drücken wolltest, ihn aber verfehltest. Dann nahmst du die Taschenlampe auf dem Nachttisch, liessest sie aber sogleich fallen. Ein dumpfer Aufschlag in der nächtlichen Stille.
›Was ist los mit dir?‹, fragte ich, blieb dabei ganz ruhig. Sogleich kam mir der Gedanke, dass du einen Schlaganfall gehabt haben könntest.

Du liessest dich von mir zur Küche führen, wo ich das Merkblatt hängen hatte.
›Versuch mal, deine Arme zu strecken‹, forderte ich dich auf.
Du schautest mich hilflos an. ›Ich kann nicht.‹
Deine Sprache war undeutlich und verwaschen.
›Okay, kannst du versuchen zu lächeln?‹
Dein linker Mundwinkel zog sich nach oben, doch der rechte hing herab. Damit war für mich der Fall klar.
›Ich rufe den Krankenwagen, das ist besser.‹
Du nicktest, hast dich nicht gewehrt. Die Tatsache, dass ich dich ankleiden und die Treppe hinunter stützen musste, bestätigte mir, dass ich das Richtige tat. Noch immer war ich gelassen. Warum ich das sein konnte, weiss ich selbst nicht so genau.

Nach den folgenden Untersuchungen bliebst du auf der Überwachungsstation. Man hätte von aussen betrachtet nicht erkennen können, dass du schwer krank warst. An einem Tag begleiteten die Krankenschwester und ich dich auf die Toilette. Als du fertigst warst, klebte eine 100er-Note an deinem Hintern; ich glaube, du hattest sie in der Hosentasche gehabt, wodurch sie rausgerutscht ist. Natürlich erinnerte mich das an das Missgeschick in Las Vegas.
›Jetzt scheisst du schon Geld‹, witzelten wir und krümmten uns alle vor Lachen.
Andreas meinte zur Krankenschwester: ›Wenn das nochmals vorkommt, sagen Sie es mir bitte, ich komme es holen.‹

Wie ein lebendiges Reh, das ausbrechen wollte, sassest du im Bett. Du wolltest so bald wie möglich wieder nach Hause. Die Diagnose hatte weder dich noch mich erschüttert.
›Wir schaffen das gemeinsam‹, sagten wir uns, die Gedanken an die Affären rückten in den Hintergrund. Natürlich hatte ich manchmal Mühe, dich anzusehen und zu wissen, dass in der Vergangenheit Dinge passiert sind, die ich eigentlich nicht hinnehmen konnte. Doch ich vertraute auf meinen inneren Instinkt, dass die Dinge sich fügen würden. Die Art, wie du mich angesehen hast, mit einer Spur Hilflosigkeit und mit einer unausgesprochenen Botschaft, dass du mich brauchst … auf diese Weise hattest du mich schon lange nicht mehr angesehen.

Die Hoffnung verlor ich jedoch bald. Nach zwei Wochen durftest du nach Hause gehen, und sogleich stand die erste Infusionstherapie an.
›Geh du ruhig, ich komm alleine klar‹, sagtest du. ›In wenigen Stunden bin ich wieder da.‹
Als ich nach dem Besuch bei meiner Freundin schliesslich wieder nach Hause kam, war für mich klar, dass dein Zustand viel ernster ist, als ich es mir gedacht hatte. Ich brachte dich ins Bett und noch einige Male würden Laura und ich dich verzweifelt anflehen, wieder ins Krankenhaus zu gehen. Denn du bist nur noch aufgestanden, wenn wir dich zur Toilette begleiten mussten, hast nur noch Müsli und Spiegelei gegessen.
›Ich gehe nicht mehr dorthin, die quälen mich bloss‹, sagtest du immer wieder, es stand nicht zur Diskussion. Schliesslich konnten wir dich überzeugen, zu gehen, sobald Andreas von seinen Ferien zurück sein würde.

Du hattest jedoch recht gehabt, die folgenden zwei Wochen im Krankenhaus waren eine Tortur für dich. Viele Infusionen, Tests und Untersuchungen brachten dich an die Grenze des Erträglichen. Du flehtest mich an, ich solle dich nach Hause holen. Du hast mitbekommen, dass ich an diesem Mittwoch mit dem Arzt darüber sprach und ihm zustimmte, dass wir zuerst einen Psychiater hinzuziehen sollten, um sicherzustellen, welche Medikamente du zukünftig brauchst.
›Ich habe keine Familie mehr, die wollen mich nicht mehr‹, riefst du verzweifelt.
›Das stimmt nicht, wir wollen dir nur helfen‹, sagte ich.
Dieser Moment hat mich nachdenklich zurückgelassen, ich hinterfragte, ob ich nach wie vor das Richtige tat. Als wir dich schliesslich drei Tage später abholen konnten, hattest du deinen Koffer bereits gepackt und sassest auf dem Stuhl. Du konntest es nicht abwarten, endlich zu uns zurückzukehren. Noch immer warst du optimistisch, dass du wieder gesund wirst.
Im Auto drehtest du dich um, schautest siegessicher zu mir auf die Rückbank, worauf ich nickte und sagte: ›Ja, jetzt gehen wir nach Hause.‹
Konnte es sein, dass ich dir insgeheim eines auswischen wollte, indem ich dich drei Tage länger auf der Station gelassen habe? Zumindest kann ich diese Möglichkeit nicht ausschliessen.

Noch heute machen wir manchmal Witze und sagen: ›Erinnerst du dich noch, als er aus der Nachttischlampe trinken wollte?‹ Eigentlich sollten wir uns nicht über dich und deinen damaligen Zustand lustig machen, denn dieser Vorfall zeigte, wie weit der Abbau in deinem Gehirn bereits vorangeschritten war. Aber ich bin mir sicher, auch du könntest über dieses Missgeschick lachen; gerade du mit deinen Sprüchen kannst mir hierbei sicherlich verzeihen. Aber vor allem hatte ich Mitleid mit dir, du warst noch viel zu jung.
Regelmässig hattest du Anfälle, hast gezuckt für fünf oder zehn Minuten. Wenn ich es mitbekam, bettete ich deinen Kopf auf das Kissen, stellte das Wasserglas zur Seite damit du es nicht herunterschlugst. Anschliessend lagst du wieder still da. Am Morgen brachte ich dir jeweils das Müsli ans Bett, gab dir zu trinken und stellte sicher, dass du die Medikamente nahmst. Ich führte dich zur Toilette, wusch dich so gut als möglich. Dann liess ich dich wieder allein. Es kam auch vor, dass du aus dem Bett gefallen warst und ich dich mit der Hilfe von Andreas wieder zurücklegen musste. Welch ein glücklicher Zufall, dass ich seit vorangehendem Monat in Pension war und Andreas im oberen Stock wohnte. Somit konnten wir uns um dich kümmern.

Wenn du und ich abends schliesslich nebeneinander lagen, nahm ich ohne zu zögern deine Hand und drückte sie. Wenn du mich durch die schwindende Dunkelheit ansahst, so fühlte ich mich manchmal für ein paar Minuten in die Vergangenheit zurückversetzt. Dann, als wir uns frisch kennengelernt und unsere Zweisamkeit zu schätzen gewusst hatten. Die Krankheit hatte uns wieder ein Stück zusammengeführt, so als wäre es der natürliche Lauf der Dinge. Wir hegten keinen Groll, das war für mich Beweis genug, dass ich nach wie vor etwas für dich empfand. Ich habe dich selten Danke sagen hören, das war nicht deine Art. Aber du hast mich mit deinen Blicken unmissverständlich spüren lassen, dass du froh warst, dass ich an deiner Seite blieb.«

 

Epilog


Eine Woche später erlitt Isabels Mann einen epileptischen Anfall, so schwer, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Eine halbe Stunde lang zitterte er am ganzen Körper, sein Gesicht dominiert von Zuckungen; wahrscheinlich war er bereits bewusstlos und spürte nichts von alldem. Isabel brachte ihn ins Krankenhaus, wo er mit Morphin zwecks Schmerzlinderung versorgt und mit einem Dormicum in einen künstlichen Schlaf versetzt wurde. Isabel war bereits seit zwei Wochen klar gewesen, dass der Zustand ihres Mannes terminal war. Als sie ihn nach Hause geholt hatte, dann, als er sich siegessicher im Auto zu ihr umgedreht hatte, war für Isabel klar gewesen, dass er nur noch palliativ versorgt werden sollte.

Schliesslich, eine Woche nach der Einlieferung, verstarb er. Zu Bewusstsein gekommen war er nicht mehr.
Die Todesursache war ein Tumor gewesen, der im ganzen Körper Ableger produziert hatte. Dies erklärte die wiederkehrenden epileptischen Anfälle. Auf der Überwachungsstation vor zwei Monaten hatte ihr Mann klargestellt, dass er eine Chemotherapie verweigerte und sich stattdessen einer Infusionstherapie unterziehen will. Doch mit diesem Vergehen verschlechtere sich sein Zustand rapide.

Wie Isabel später entdecken sollte, hatte es erste Anzeichen der epileptischen Anfälle bereits einen Monat vor ihrer Kenntnis darüber gegeben. Ihr Mann hatte die Anfälle im Bad vor dem Spiegel mit dem Handy gefilmt. Doch niemand hatte etwas davon mitbekommen, und ihr Mann liess den Krebs stillschweigend seinen Fortschritt nehmen.
Isabel hatte es zu seinen Lebzeiten nie gewagt, das Handy ihres Mannes durchzusehen, obschon sie geahnt hatte, dass er Affären nachging. Nun, als sie die verschiedenen Chats durchstöberte, bekam sie ihre Vermutung bestätigt.

Isabel nahm seinen Tod mit Fassung hin, ihren Alltag lebte sie fast in gewohnter Manier weiter. Bereits Tage danach entsorgte und verschenkte sie seine Kleider, was manche mit Erstaunen bekundeten. Trotzdem hinterliess er eine Lücke. Abends, wenn sie alleine im Bett lag, verspürte sie eine leise Sehnsucht nach ihm. Und so passierte das, was manche vielleicht mit Skepsis kommentieren würden: Eines Nachts, als sie im Dunkeln kurz vor dem Einschlafen war, erleuchtete die Stelle vor ihrem Kleiderschrank hell, und eine menschliche Gestalt erschien. Sie konnte nur Umrisse erkennen, kein Gesicht, nur der Anzug mit Krawatte, die Hose – die Kleidung, die Isabel und Laura ihm nach seinem Tod angezogen hatten.
Isabel blieb regungslos und stumm liegen, vielleicht eine Minute lang, dann verschwand die Gestalt wieder. Einige Tage später sollte ein ähnliches Erscheinen nochmals passieren. Für Isabel bestand kein Zweifel, dass ihr Mann versuchte, mit ihr zu reden.

Isabel wusste, dass sie seiner Bitte nachkommen will und muss. Noch nie hatte sie von der Dienstleistung eines Mediums Gebrauch gemacht, doch nun sie schien überzeugt, dass dieser Schritt für sie und ihren Mann wichtig sein würde.
Sie besuchte die Frau in ihrem Praxis, nahm vor ihr Platz und wurde angehalten, Fragen nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Über eine halbe Stunde lang beantwortete Isabel die verschiedensten Fragen über ihren Lebensweg, über die Geburt der Kinder und Enkel, über ihren beruflichen Alltag und über die Beziehung zu ihrem Mann.
»Seid ihr in Amerika gewesen?«, fragte die Frau schliesslich.
»Ja, die Hochzeitsreise.«
»Hatte er einen Verwandten dort?«
»Ja.«
»Sie waren das erste Mal geflogen, stimmt das?«
»Das stimmt, ich hatte schon ein wenig Schiss.«
Die Frau blieb einen Moment lang still.
»Diese Reise hat ihm sehr gefallen, auch der Abstecher nach Las Vegas«, sprach sie weiter.
»In Las Vegas hat er die dreihundert Dollar verloren, die ihm sein Onkel mitgab«, erinnerte Isabel sich. »Ich sagte ihm, er solle das Geld nicht lose in der Hosentasche herumtragen.«
»Und ein weisses Auto kommt noch zur Sprache.«
»Der Mustang.«
»Er lässt Sie wissen, dass Sie diesen bitte nicht verkaufen.«
Isabel nickte.
»Zudem sagt er, dass er es schön gefunden habe, dass er und Sie nebeneinandersitzen und einander ohne Worte wahrnehmen konnten. Er hat sich in Ihr grosses Herz verliebt und es tue ihm leid, dass er Sie betrogen hat. Er rechne es Ihnen hoch an, dass Sie bis zu seinem Tod bei ihm geblieben seien – trotz allem, was er getan habe.«

Nach dieser Begegnung überkam Isabel eine grosse Traurigkeit. Erst zu diesem Zeitpunkt erkannte sie wirklich, dass ihr Mann nicht mehr zurückkommen würde. Und sie erkannte auch, was sie getan hatte. Denn zu ihrer Überraschung hatte sie auf seinem Handy zusätzlich entdeckt, dass er vor einem halben Jahr ihrer Tochter Laura, zu der er eine sehr starke Bindung hatte, eine Nachricht geschrieben hatte: ›Isabel geht fremd. Jetzt geht alles den Bach runter.‹
Isabel tat es im Nachhinein leid, dass auch sie zwei mittlerweile beendeten Affären nachgegangen war. Sie war derart verletzt gewesen, dass sie es ihrem Mann gleichgetan hatte. Sie hatte geglaubt, dass selbst wenn er davon erfahren sollte, es ihm gleichgültig sein würde. Nun wusste sie, dass sie ihn damit genauso verletzt hatte.
Sie weinte oft, ass über mehrere Wochen hinweg deutlich weniger und verlor sichtbar an Gewicht. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie mehr um ihre Beziehung hätte kämpfen sollen. Doch mit fortschreitender Zeit erkannte sie, dass für sie nun ein neues Kapitel anbrach. Sie war dankbar, dass sie mit ihrem Mann die letzten Unstimmigkeiten hatte bereinigen können.

»Ich wünsche mir, dass du wieder jemanden an deiner Seite hast«, hatte er sie zuletzt über das Medium wissen lassen. »Du sollst nicht allein sein und ich begrüsse es, wenn du jemanden Neues kennenlernst, wenn du das willst.«
Ob das passieren wird, weiss Isabel nicht. Mit ihrem Leben ist sie zufrieden, im Alltag erfreut sie sich ab den Spaziergängen mit ihren Enkeln, die immer mal wieder etwas über ihren Grossvater erfahren wollen.
»Ich vermisse ihn auch«, fügt Isabel jeweils an. »Aber er ist bei uns und guckt uns zu, einfach halt in anderer Form, wisst ihr?«
Und wenn sie abends nach Hause kommt, bleibt sie manchmal kurz stehen und mustert den weissen Mustang, der nach wie vor auf dem Vorplatz parkiert ist.

Übrigens hat Isabel inzwischen die Bettseite gewechselt, sie schläft nun dort, wo ihr Mann jeweils lag. »Meine Seite quietscht ein wenig, ich muss mal schauen, was da los ist«, erzählt sie mir und kichert. »Aber auf seiner Seite schläft es sich ebenso gut.«

 



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