Mai 2021, Basel (Schweiz)

»Maria, wie hast du nach 27 Jahren einen Teil deiner Familie wiedergefunden?«

Nach meinem Gespräch mit Maria, die ich an diesem Tag das erste Mal gesehen hatte, verfasste ich folgende Geschichte über ihre Erlebnisse, wie sie einen Teil ihrer Familie wiedergefunden hat:

 

Maria stand am Fenster ihres Hotelzimmers in Cardiff, blickte im Minutentakt nach draussen, dann wieder auf ihr Handy. Sie erwartete eine SMS. Ihr Freund sass auf dem Bett, schien weniger nervös zu sein, weshalb sie froh war, ihn dabeizuhaben.
»Wollen wir nicht unten beim Eingang warten?«, fragte sie ihn. »Er hätte eigentlich schon längst schreiben sollen.«
Diese Warterei trieb sie noch in den Wahnsinn. Denn warten tat sie schon jahrelang, und nun war endlich der Moment gekommen, in dem sie sich gegenüberstehen würden.

Was wohl ihr Vater dazu sagen würde? Drei Jahre war es her, als Maria im Büro ihres Chefs, dem Chefarzt, stand und ihm die Akte mit den Resultaten der Röntgenaufnahme zeigte. Sie vertraute ihm, er fand stets die richtigen Worte.
»Du verstehst das schon richtig«, sagte er schliesslich zu ihr. »Melde dich zuerst beim Hausarzt, in Ordnung?«
Sie antwortete nicht. Es war ein Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Seit der Kindheit war Marias Verhältnis zu ihrem Vater wechselhaft gewesen, aber trotz aller Herausforderungen mochte sie ihn wirklich.
»Komm mal her«, sagte der Arzt und machte einen Schritt auf sie zu, »du darfst ruhig weinen.«
Er nahm sie in den Arm, sogleich liefen ihr die Tränen hinunter. Bei ihrem Vater war ein lebensbedrohlicher Tumor entdeckt worden.

Sie sieht es noch bildlich vor sich … ein paar Monate nach der Diagnose, als sie morgens über die verschneite Brücke stapfte. Die Stadt vor ihr, still und komplett in Weiss gehüllt. Am vorherigen Abend war ihr Vater notfallmässig ins Krankenhaus eingeliefert worden, nun war sie erleichtert zu wissen, dass er gut versorgt war. Es war das erste Mal seit Langem, dass sie diese Erleichterung spürte. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob dieses Gefühl täuschte.
Am Abend klingelte das Telefon: »Der Zustand Ihres Vaters hat sich leider verschlechtert.«
Sie eilte zum Auto, fuhr los und schaltete das Radio an, um sich zu beruhigen. Nach ein paar Minuten passierte etwas Seltsames. Es wurde ein Song gespielt, dessen Text ihr unter die Haut ging. In diesem Moment glaubte sie zu wissen, dass sie sich nicht mehr zu beeilen brauchte. Sie schaute auf das Radio, um zu sehen, welcher Song denn gespielt wurde und erblickte die Digitaluhr. 20:35 Uhr. Sie glaubte nicht an höhere Mächte, aber als sie Tage später die Sterbeurkunde in den Händen hielt, stand dort der Zeitpunkt seines Todes. 20:35 Uhr. Diesen Moment des Schauderns würde sie nie vergessen, vielleicht hatte es doch eine verstärkte Verbindung zwischen ihnen gegeben.

Viele Jahre zuvor, hatte sie ein Geheimnis erfahren.
»Mach was du willst, aber frag mich nicht weiter danach«, hatte ihr Vater eines Abends gesagt, nachdem sie bei ihrer Oma zu Besuch gewesen war. Damals zwölf Jahre alt, hatte sie die Bedeutung dieser einen neuen Information noch nicht einordnen können, aber nach dem Tod ihres Vaters war der Wunsch immer stärker geworden. Denn an diesem Nachmittag war ihr etwas offenbart worden, das ein Geheimnis hätte bleiben sollen.
»Das war im selben Jahr, in dem dein Bruder zur Welt gekommen ist«, hatte ihre Oma aus heiterem Himmel gesagt, als sie von früher erzählt hatte.
»Mein Bruder?«, hatte Maria ungläubig gefragt, denn sie hatte stets geglaubt, ein Einzelkind zu sein.

Nun war sie also hier in Cardiff, um das erste Mal ihren Halbbruder zu treffen. Ihr Freund und sie hatten beschlossen, nicht länger auf die SMS zu warten. Als Maria auf den Hotelflur trat und zur Seite blickte, erschrak sie. Da stand er, ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hat sogar die gleiche Gangart wie mein Vater, das dachte sie sich noch, als sie aufeinander zugingen. Dann nahmen sie sich in den Arm. Maria schätzte, wie unvoreingenommen er ihr gegenübertrat. Keine Vorwürfe, keine verletzenden Vorurteile. Er war nur fünf Tage jünger als sie, ihr Vater hatte damals eine Affäre mit einer anderen Frau begonnen, die schliesslich Marias Mutter wurde. Die Mutter von Marias Bruders zog nach der Trennung von Marias Vater nach Wales mit ihren Kindern, der Kontakt in die Schweiz brach ab.

Marias Verwandte hatten von ihrem Bruder gewusst, Maria konfrontierte sie damit, versuchte aber gleichzeitig, ihnen keine Vorwürfe zu machen. Sie wollte die Gründe verstehen, und falls ihr das nicht gelang, wollte sie es zumindest akzeptieren können. Warum diese Geheimnistuerei, die ihre Familie spaltete? Ihre Wut richtete sich hauptsächlich gegen ihre Eltern, denn Maria hatte sich schon immer Geschwister gewünscht. Ihr Vater hatte vieles geleugnet, Maria war es wichtig, damit aufzuhören.

Zwei Jahre nach ihrem ersten Treffen lud Maria ihren Bruder zu ihrer Hochzeit in die Schweiz ein, damit er ihre Verwandten traf, die er seit seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
Nun machte sie sich Gedanken, an welchem Tisch er sitzen sollte beim Abendessen und wie das denn sein würde, wenn er auf seinen Onkel traf.
Bei der Trauung warf sie immer wieder vorsichtige Blicke zur Bank, wo ihr Bruder sass, aber sie fand nichts, was ihr Unbehagen hätte bereiten können. Stattdessen lächelte er ihr zu.
Am Abend passierte dem DJ ein Fehler, denn er bat Marias Vater zum Tanz mit seiner Tochter. Schlussendlich war es ihr Bruder, der mit ihr tanzte. Er hatte nie Kontakt zu seinem Vater gehabt, denn erst nach dessen Tod war Maria auf die Suche gegangen, hatte trotz Bedenken ihrer Familie weitergemacht. Nun konnte sie immer noch nicht so richtig glauben, dass sie doch kein Einzelkind war. Denn neben ihrem Bruder hatte sie auch noch eine Schwester. Wie froh sie heute ist, hartnäckig geblieben zu sein.
Am Ende ging alles gut, nach der Hochzeit klopfte Marias Onkel ihr mit Stolz auf die Schulter.

Lange war Maria davon ausgegangen, dass sich die drei Geschwister erst im Erwachsenenalter das erste Mal gesehen hatten. Aber dem war nicht so. Als Maria eines Tages die verstaubten Schränke ihrer Oma durchstöberte, fand sie ein Foto, das Maria mit ihren beiden Geschwistern zeigt als sie noch ganz klein waren. Aber heute kann sich niemand mehr daran erinnern, wie es tatsächlich gewesen war. Auch nicht Marias Oma. Denn als ihr Bruder nach so vielen Jahren wieder vor ihr stand und ihre Hand hielt, konnte sie nicht mehr sprechen. Sie war es ja gewesen, die vor vielen Jahren Maria gegenüber dessen Existenz offenbart hatte. Doch nun war die Demenz bereits zu weit fortgeschritten. Vermutlich aber hat sie ihren Enkel erkannt, da die Ähnlichkeit zu seinem Vater wirklich verblüffend ist.

 



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