Mai 2020, Luzern (Schweiz)

»Marion, wie hat dich während der Zeit von starker Depression die Liebe gefunden?«

»Lange Zeit habe ich an Depression gelitten. Mit achtzehn Jahren wurde der Schmerz unerträglich. ›Ich will nicht mehr weiterleben‹, sagte ich zu meiner Mutter. Kaum vorstellbar, wie das für sie gewesen sein muss. Sofort fuhren wir zu einem Arzt. Auf dem Boden lag ein Meter Schnee … ich erinnere mich noch genau.«
Nach diesem Tag blieb Marion fast fünf Monate lang in einer psychiatrischen Klinik. Heute ist sie 30 Jahre alt, und fühlt sich nach einer langen Krankheitsgeschichte endlich besser.

Wir gehen in Richtung Wald, der an ihr Zuhause grenzt. »Der Film über psychische Gesundheit, den du heute auf Social Media empfohlen hast … ich habe mir die Zeit genommen, ihn anzuschauen«, sagt sie. »Ich habe mich wiedererkannt.«
Es ist Zufall, dass ich heute Morgen auf einen Dokumentarfilm über psychische Krankheiten und deren Behandlung gestossen bin. Eine Aussage blieb mir besonders: ›Eigentlich habe ich alles, um zufrieden zu sein, trotzdem bin ich es nicht‹, erzählte eine Frau, die am Boreout-Syndrom leidet. Sie hatte ihre Firma verkauft und nun, im Alter von ungefähr fünfzig Jahren, weiss sie nicht mehr, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Ein Ziel fehlt.

»Es begann bereits mit vier Jahren«, fährt Marion fort. »Vielleicht hatte die Geburt meiner jüngsten Schwester einen Einfluss, vielleicht war ich eifersüchtig. Natürlich wusste ich noch nicht, was mit mir passiert, aber ich weinte oft. Sogar als Kind fühlte ich mich nur selten leicht und frei … ich kann mich an keinen Moment erinnern, an dem ich richtig glücklich war. In der fünften Klasse fragte mich eine Kameradin, warum ich nach der Schule immer gleich weg muss. Ich antwortete ihr, dass es mir schlecht geht. Damals besuchte ich zwischen der zweiten und achten Klasse diverse Therapien. ›Mit Mitmenschen, die sich nicht gut fühlen, will ich nichts zu tun haben‹, sagte sie. Das traf mich hart.«

Marion erklärt, was die Depression in ihr auslöste. »Die Medikamente gaben mir ein Gefühl der Leere, ohne sie spürte ich einen starken seelischen Schmerz. Hast du schon mal erlebt, dass jemand gestorben ist, der dir nahestand? So kannst du dir das vorstellen. Doch in meinem Fall wusste ich nicht, warum dieser Schmerz da ist. Deshalb zeigten sich bei mir mit 25 zusätzlich Borderline-Symptome.«
»Du meinst, dass deine Emotionen stark schwankten?«
»Nein, nicht bei mir. Es bedeutet, dass ich mich verletzt habe. Ich zog physischen Schmerz dem seelischen Schmerz vor.«

»Wussten deine Freunde, dass du an Depression leidest?«
»Nein, aber meine Familie, die mich unterstützte. Als ich nach Jahren auch meinen Freunden davon erzählte, fragten sie, warum ich ihnen nichts gesagt habe. Die Antwort wusste ich selbst nicht.«

Inzwischen sind wir von unserem Spaziergang zurück und stehen im grossen Garten neben Marions Haus. Miro, ein Australian Shepherd, wuselt um unsere Füsse und sucht nach Aufmerksamkeit. Er ist wie ein energiegeladenes Wollknäuel.
Marion erzählt mir, dass sie einen zweiten Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik hatte – sieben Jahre nach ihrem ersten Aufenthalt.
»Zu Beginn dieser drei Monate schrieb mir ein Freund eine Nachricht: ›Ist es möglich, dich besuchen zu kommen?‹ Das zu lesen machte mich ein wenig stutzig, denn wir kannten uns nur flüchtig. Doch schlussendlich besuchte er mich jede Woche. Wir kamen uns näher. Manchmal verschloss ich mich, aber er merkte schnell, wann er mich in die Arme nehmen kann und wann das keine gute Idee ist. Er ist überaus geduldig. ›Warum interessiert er sich ausgerechnet für eine Person, die ständig weint?‹, fragte ich mich.«

Innerhalb der nächsten zwei Jahre hatte Marion einen dritten und vierten Aufenthalt, jeder davon dauerte nochmals drei Monate. In dieser Zeit gab sie ihrer Krankheit einen Namen. Sie nannte sie ihren Dämon. Das ist mittlerweile drei Jahre her. Seitdem hat sich ihr Leben stark verbessert. Der Mann, der sie damals jede Woche besuchen kam, ist nun ihr Freund. Sie zogen zusammen in dieses Haus.
»Am Anfang war es schwer, da wir keine Tiere hatten. Ich bin auf dem Land aufgewachsen.«
Somit kamen als erstes die Zwergkaninchen und Meerschweinchen. Diese sind wirklich niedlich, das kann ich bestätigen. Nach einiger Zeit gesellte sich ein Welpe dazu, und ich bin mir sicher, dass er schon damals so aufgeweckt war wie heute.

»Oh wow, der Himmel«, bemerke ich plötzlich. »Lass uns ein von Foto von dir und Miro machen.«
»Wenn du ein paar Geräusche machst, wird er sogar in die Kamera schauen«, sagt Marion.
Ihr Hund gibt ihrem Alltag Struktur. Und er verteilt pure Lebensfreude. All das scheint mir wie ein Happy End in einem Film zu sein.

»Wie steht es heute um deinen Dämon?«, frage ich gegen Schluss.
»Er ist immer noch da, aber er ist klein. Manchmal klopft er an, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber ich lasse ihn nicht mehr herein.«

 



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