Es mag sein, dass ich mich in ihm wiedererkannt habe, als wir uns eines Morgens im Frühling das erste Mal sahen. Er kam nach mir an, ein Wägelchen neben sich ziehend. Lockiges Haar, schmales Kinn, umrahmt von einem Zehntagebart. Unsere Begrüssung fiel kurz und unspektakulär aus.
In der Halle, gross und mit hoher Decke, war die Stimmung der bevorstehenden dreitägigen Kunstmesse greifbar – vorfreudige Stimmen vermischten sich mit dem Rascheln von Luftpolsterfolien, verursacht von zwei Dutzend Ausstellern, die ihre Bilder und Skulpturen ins rechte Licht rückten. Ich bereitete meinen Tisch für die Präsentation meines Buches vor, Roberto werkelte drei Meter neben mir.
Nach einer Weile warf ich einen Blick auf seinen Stand, wo sich geschwungene Formen abzeichneten. »Das spricht mich an, ich habe Elektrotechnik studiert«, sagte ich.
Er lächelte mit einer Spur Verlegenheit, die, wie ich später feststellte, ein Teil seiner Persönlichkeit zu sein schien. »Dann kennst du dich besser aus als ich. Ich baue das Zeugs bloss auseinander und setze es neu zusammen.«
Er hauchte Elektroschrott neues Leben ein, indem er aus den grünen Platinen und bunten Drähten auf Holzplatten Kreaturen klebte. Drachen, tanzende Figuren oder einen Roboter mit Quadratschädel namens Gwen.
Mit einer Ausnahme wechselten wir nur wenige Worte, er redete nur dann, wenn es was zu sagen gab, das gefiel mir. Während ich meinen Stand manchmal stundenlang sich selbst überliess, schien er ausdauernd oft auf seinem Stuhl zu sitzen. Er war da, wenn ich ging und er war da, wenn ich ankam.
»Hat sich in der Zwischenzeit was verkauft?«, fragte ich einmal.
»Ja, eine Frau ist nochmals vorbeigekommen, als ich beim ersten Mal kurz weg war. Sie hat den Kollegen von Gwen mitgenommen.«
Wir freuten uns gemeinsam, ich spürte seine Begeisterung, die sich gegen aussen unauffällig zeigte. Vielleicht lag es daran, wie er mir später erzählte, dass nicht alle Veranstalter seine Kunst als solche ansahen, ihn möglicherweise sogar dafür belächelten.
Am letzten Messetag hielt ich auf der Bühne eine Lesung. Vorgängig hatte ich bei meinem Stand eine Kartonbox platziert, in die man Kärtchen mit anonymen Antworten einwerfen konnte. Die Frage dazu lautete: ›Was wünschst du dir, wüssten die Leute in deinem näheren Umfeld über dich?‹
Gegen Ende der Lesung öffnete ich die Box und las drei Antworten vor. Als ich anschliessend zu meinem Stand zurückkehrte, wartete Roberto wie gewohnt und machte mir zu meiner Überraschung ein Kompliment.
»Du hast zugesehen?«, fragte ich.
»Von der Galerie aus. Übrigens war eine deiner vorgelesenen Antworten aus der Box von mir.«
Ich erinnerte mich ungefähr. Er hatte auf dem Kärtchen notiert, dass seine Freunde und Familie vielleicht gar nicht richtig wüssten, wie sehr er sie mag.
Am späten Nachmittag, als die Messe sich dem Ende zuneigte, kam er wiederum auf mich zu: »Ich hätte durchaus Lust, auch mal mitzumachen, falls du noch Freiwillige brauchst.«
Das überraschte mich wiederum, und wir redeten zum ersten Mal ein wenig länger. Ich erfuhr, dass er als Heil- und Theaterpädagoge arbeitet und seine Frau Janine im vierten Monat schwanger sei. Im Nachhinein ist es mir peinlich, dass ich vorurteilend gedacht hatte, Roberto wäre alleinstehend.
Vier Monate vergingen, schliesslich bog ich mit dem Auto in die enge Quartierstrasse ein und hielt vor einem Mehrfamilienhaus. Sein Atelier im Keller erinnerte mich an eine heimelige Höhle, in die man sich stundenlang zurückzieht, wenn einem danach ist. Sogleich machten wir uns an die Arbeit und bauten ein kleines Set für die visuellen Aufnahmen.
Irgendwann fragte ich ihn, was eine seiner grössten Veränderungen im Leben bisher gewesen sei.
»Da gibt es ein paar davon«, erwiderte er. »Vielleicht nicht die grösste, aber die nachhaltigste begann vor acht Jahren, als ich auf einer Veranstaltung auf Janine traf. Ich hatte gerade eine Scheisszeit, versuchte mit mir selbst klarzukommen, lebte in einer Wohngemeinschaft, danach wieder bei meinen Eltern und fühlte mich mit meinen 28 Jahren, als wäre ich in der Zeit zurückgeschubst worden. Janine war damals erst 20, durch ihre unverblümte Zugänglichkeit wirkte sie älter, reifer. Am Tagesende fuhr ich sie mit dem Auto nach Hause, und ich ziehe sie heute ein wenig damit auf, dass sie während der Fahrt fast pausenlos redete, vielleicht der Nervosität geschuldet. Irgendwann kamen wir auf den christlichen Glauben zu sprechen, zu dem ich bis auf die Kirchengänge in meiner Kindheit keinen Bezug hatte. Und etwas vom Ersten, woran ich mich erinnern kann, war ihre Aussage, dass sie keinen Sex vor der Ehe habe. Ihr war das wichtig. Als wir zusammenkamen, hat mich das nachdenklich gestimmt, vielleicht auch skeptisch gemacht, doch weil wir uns das wert waren und ich ebenfalls die Verbindung zu Gott fand, schwanden diese Zweifel. Bist du gläubig?«
»Nein, ich fand nie einen Zugang, aber als Atheist sehe ich mich trotzdem nicht.«
»Das findet jeder für sich selbst heraus.«
»Ich schliesse nicht aus, dass sich meine Einstellung irgendwann ändert. Wie hat dich diese Verbindung zum Glauben genau beeinflusst?«
»Ich kann abgeben, es ist befreiend.«
»Befreiend in welchem Sinne?«
»Beispielsweise dieses Wochenende: Mir stand eine zweistündige Autofahrt bevor, und ich hatte ursprünglich geplant, allein zu fahren. Da wir als Klub an einem Turnier teilnahmen, machte es jedoch Sinn, Fahrgemeinschaften zu bilden. Ich vernahm, dass einige Leute noch nirgends untergekommen waren. ›Nun sei mal nicht so‹, sagte ich mir und bot meine freien Plätze an. Prompt meldeten sich zwei Leute, die ich kaum kannte, und ich befürchtete, dass es eine zähe Fahrt werden würde. Aber ich vertraute. Wenig später meldete sich ein Dritter, ein Freund, mit dem ich regelmässig trainiere. Ich atmete auf, Gott hatte gesorgt. Doch einen Tag vor der Fahrt sagte mein Freund krankheitsbedingt ab. Wieder begann ich mir Gedanken zu machen, Janine beruhigte mich. Und tatsächlich war die Fahrt mit den beiden Klubkollegen erfrischend angenehm. Das Vertrauen, dass Gott sorgen wird, bringt mir oft Entspannung, dabei gibt es eine Grenze, die ich nicht überschreite, nämlich die zur Naivität und Leichtsinnigkeit. Ich trage meinen eigenen Teil bei, gestützt auf Dinge, die ich beeinflussen kann.«
Wir unterbrachen unser Gespräch, um nach oben in die Wohnung im zweiten Stock zu gehen. Janine hatte Couscous-Salat und Tomaten-Mozzarella vorbereitet, und die Freundlichkeit der beiden, mich zum Abendessen auf ihrem Balkon einzuladen, rührte mich. Janine lernte ich als eine aufgeschlossene, interessierte Frau kennen, und hätte ich sie bloss nach ihrer eloquenten Ausdrucksweise beurteilt, hätte ich sie auf Mitte dreissig geschätzt. Während des Essens fiel eine Anekdote, die mein Interesse weckte und die ich später im Atelier mit Roberto wieder aufgriff.
Er begann: »Wir haben vorher davon gesprochen, dass ich die Ruhe sehr schätze, wie du auch, und dass ich das bei einem Badetag am Neuenburgersee nochmals bestätigt bekam. Am Ufer war ausgelassener Betrieb; nichts Ungewöhnliches und störte mich keineswegs. Ich schwamm und machte impulsiv einen kräftigen Zug nach vorne, tauchte unter und setzte mich auf den steinigen Grund. Ich sah zappelnde Beine und wellige Lichtstrahlen. Augenblicklich fiel mir die Stille auf. Nur dumpfe Umwälzungen des Wassers waren zu hören, ansonsten wirkte es, als hätte ich einen isolierten Raum betreten. ›Das ist ja schön‹, dachte ich, während mir langsam die Luft ausging.«
»Das erinnert mich an meine Reise in Neuseeland vor einigen Jahren. Auf einer kleinen Insel ganz im Süden, hauptsächlich mit Regenwald bedeckt, machte ich auf eigene Faust eine Wanderung. Mitten zwischen den Bäumen machte ich Pause, setzte mich hin. Erst dann bemerkte ich, dass es in diesem Wald totenstill war. Keine Vögel, keine raschelnden Blätter, kein rauschendes Wasser. Es war deshalb so eindrücklich, weil mein Kopf nicht wahrhaben wollte, dass diese reichhaltige Umgebung keinerlei Geräusche verursachte. Vielmehr noch, in mir wurde diese Stille zunehmend laut und unangenehm.«
»Ist es nicht so, dass es zwei Ebenen von Akustik gibt? Die tatsächlichen Geräusche, die von aussen kommen. Und dann das, was in deinem Kopf bewusst zu hören ist. Hierzu könnte ich nochmals was erzählen.«
»Nur zu.«
»Die erwähnte Phase vor acht Jahren, als es mir nicht gut ging und ich Janine das erste Mal begegnete, hatte ich ein verstärktes Bedürfnis nach Ruhe. Bis wenige Monate davor lebte ich in einer neunjährigen Beziehung, die sich immer mehr im Alltagstrott verlor und dann nicht mehr zu retten gewesen war.«
»Damit ich es einordnen kann: Du bist somit seit deinem zwanzigsten Lebensjahr bis auf wenige Monate mit jemandem zusammen gewesen, richtig?«
»Genau, das war nicht geplant, aber so spielt das Leben manchmal. Es ist also die Phase, in der ich ein Beziehungsende verarbeiten muss. In der Wohnung wollte ich allein nicht bleiben … zu viele Erinnerungen … somit zog ich in eine Wohngemeinschaft. Keine gute Idee, das merkte ich schnell. Wir harmonierten nicht, Ruhe fand ich sowieso keine, somit flüchtete ich zu meinen Eltern, suchte parallel nach einer Wohnung, die ich schliesslich fand. Du musst dir vorstellen, ich war ein wenig orientierungslos, genervt, überfordert. In der ersten Nacht in der neuen Wohnung konnte ich ab den Kirchenglocken nicht schlafen, zudem war das Mauerwerk so ringhörig, dass ich hörte, wenn mein Nachbar die Toilette aufsuchte und die Kloschüssel vermutungsweise als Pissoir benutzte. Fragwürdig, ob ich mich in dieser Umgebung wohlfühlen würde. Es war auch die Zeit, in der ich mit den Collagen aus Elektroschrott begann. Eines Abends war ich in meine neue Beschäftigung derart vertieft, dass ich plötzlich aufhorchte. Ich hatte keine Glockenschläge gehört, und das über zwei Stunden hinweg. In den folgenden Wochen kam das immer öfter vor, auch die Toilettengänge meines Nachbars nahm ich zunehmend mit Humor.«
»Du hast dir deine eigene Stille geschaffen.«
»Ja, ich benötigte ein paar Anläufe, um das zu erreichen.«
»Wie lange bist du schlussendlich in der Wohnung geblieben?«
»Vier Jahre, danach zog ich mit Janine hierher.«
»Und wie fühlst du dich mit deiner wohl grössten bevorstehenden Veränderung?«
»Anfangs war mir ein wenig mulmig zumute, mittlerweile ist es reine Vorfreude und wie du vermutest, auch eine beachtliche Portion Vertrauen. Als ich Anfang zwanzig mit meiner damaligen Freundin über Kinder sprach, sagten wir ›Ja, ja, irgendwann mal, wir haben Zeit.‹ und die Zeit verging und der Wunsch rückte immer weiter in den Hintergrund. Als ob ich es vergessen hätte. Doch als es ein Jahrzehnt später mit Janine ernst wurde, erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich, dass ich doch schon immer Hausmann sein wollte. Kochen, für das Kind da sein, die Wohnung in Ordnung halten. Wer weiss, was passiert wäre, hätte meine erste Beziehung gehalten. Jedenfalls glaube ich, dass in uns Wünsche schlummern, die wir auf dem Weg zurückgelassen haben. Manchmal dürfen sie weiterschlummern, manchmal aber wollen sie geweckt werden.«
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Abschliessend möchte ich erwähnen, dass Roberto genau an diesem Wochenende, als ich diese Geschichte veröffentlicht habe, Vater geworden ist. Ich wünsche den beiden alles Gute.
Übrigens, Robertos Kunstwerke kann man auch online bewundern, besuche ihn unter elektrocollage.com.