April 2024, Winterthur (Schweiz)

»Romy, was machst du in Momenten, in denen du überwältigt bist?«

Momentan bin ich etwa zweimal pro Monat unterwegs, um Menschen, die ich zumeist nur aus dem Internet kenne, in ihrem Zuhause zu besuchen. Mich interessiert der Blick in andere Wohnungen und die damit verknüpften Geschichten.

Der 13. April war ein solcher Tag. In diesem Winterthurer Quartier ragt der zwölfstöckige Wohnblock unübersehbar empor, und wenn ich ohne Absichten an diesem vorbeigegangen wäre, hätte ich meine Gedanken spielen lassen, wer dort wohl wohnen mag – hoch oben, wo der Blick weit über die bewaldeten Hügel reicht.

Als ich um 19 Uhr aus dem Lift stieg, erwartete mich Romy mit einem Lächeln im Türrahmen stehend. Kaum hatte ich die Schuhe ausgezogen, sagte sie, ich solle mich ohne Zurückhaltung umschauen. Sich sogleich wohlzufühlen und gleichzeitig gehemmt zu sein, in den vertrauten Räumen einer fremden Person umherzugehen, ist etwas, woran ich mich vielleicht nie vollständig gewöhnen werde.

Es dauerte rund eine Stunde, bis ich alle meine Fotos geschossen hatte. Dann setzten wir uns in die Küche.

»Ich bin Überlebenskünstlerin und sage das mit Stolz«, meinte Romy zu mir, das linke Knie lässig angezogen. Sie lacht viel und gerne, das ist nicht zu übersehen. Als ich mein Glas unter dem Wasserhahn nachfüllen wollte, sagte sie, ich solle doch das Mineralwasser aus dem Kühlschrank nehmen, da das Wasser hier ziemlich kalkhaltig sei. Zudem hatte sie nicht nur eine, sondern gleich zwei Schüsseln mit Chips vorbereitet.

Dann erzählte sie:

»Seit mehreren Jahren übe ich mich darin, mit sehr wenig Geld auszukommen. Berufliche Überforderung zwang mich zur Pause, danach kamen diverse Komplikationen mit Ämtern und Arztpraxen auf mich zu. An Regeneration war lange nicht zu denken. Ich freue mich umso mehr, wenn sich jemand wohlfühlt in meiner Wohnung. Hier ist der Ort, an dem mir niemand sagen kann, wer ich bin und was ich zu tun habe.«

»Einrichten im Budget lautet das Motto. Ich verbringe viel Zeit in Brockenstuben oder finde Brauchbares an den Strassenrändern. Jeder Gegenstand ist mit Bedacht akquiriert, würde ich mal behaupten. Ich bin ja nicht nur Überlebenskünstlerin, sondern mache auch Kunst. Sei es, Altem neuen Glanz zu verleihen oder Neues zu erschaffen.
Momentan beschäftige ich mich viel mit Trockenblumen. Ich überlege, wie ich sie kombiniere und mittels Fäden befestige. Wenn du überwältigt bist, dann ist es schön, wenn alles stillsteht und du sowas Harmloses wie eine Blume vor dir hast.«

»Mein Hund Lars war immer an meiner Seite. Er war Partner, Freund, Bruder, Kind und Lebensaufgabe. Am Schluss hatte er Krebs, vermutlich litt er bereits unter Schmerzen, doch immerzu wollte er Verstecken spielen oder dass ich ihn beim Duschen Wasserspritzer verpasste. Er hatte eine Scheiss-Freude, er war pure Lebensfreude. Das Leben ist kurz und schön, das hat Lars mir vor Augen geführt. Dass es wichtig ist, eine Situation anzunehmen und die Freude am Spielen zu bewahren, auch wenn das in manchen Momenten kaum vorstellbar sein mag. Egal, ob ich fröhlich, traurig oder wütend war … Lars stand stets mit wedelndem Schwanz neben mir und wollte spielen. Ich glaube, ich bin noch nie so bedingungslos geliebt worden.«

»Ich bin viel allein. Freiwillig und unfreiwillig. Ich bin davon überzeugt, dass du lieber allein bist als schlecht begleitet. Je mehr ich mich damit befasse: jedes Loch ist wichtig … was du isst, was du hörst, mit wem du Liebe machst. Eben erst letztes Jahr habe ich zwei langjährige Freundschaften beendet, die mich ausgetrocknet haben.
Am Montag gehe ich zum x-ten Mal allein in die Ferien. Trotzdem wird’s schön, keine Frage. Ich sitze auch viel hier an meinem Lieblingsfenster und sehe den Krähen zu, wie sie es mit den Mäusebussarden aufnehmen. Von meinem Bett aus sehe ich die Sterne. Es fühlt sich so an, als schwebe ich hier oben ganz allein. Es gibt auch die andere Seite, dass ich mich nach Gemeinschaft, Lachen und Zusammenhalt sehne.«

»Nächsten Samstag hole ich einen bulgarischen Strassenhund ab, um ihm bei mir ein neues Zuhause zu geben. Ein paar Leute haben gefragt, warum ich mir das antue. Ich wisse ja nicht, wie er ist und ob er mir das Leben zusätzlich schwer machen wird. Vielleicht bin ich auch ein bisschen eingebildet in dieser Hinsicht, aber ich bin überzeugt, das kommt gut. Weil ich nachvollziehen kann, wie es ist, am Rande der Gesellschaft zu sein. Liebe kann Wunder bewirken und einen stärken und verändern. Liebe ist die Lösung zu allem, und damit meine ich nicht die romantische Liebe. Meine Hoffnung ist, dass ich ihm geben kann, was er braucht. Ich habe so Bock auf ihn und freue mich riesig auf die entstehende Verbindung zwischen uns.«

An dieser Stelle bedanke ich mich herzlich bei Romy für diesen besonderen Einblick in ihr Leben.