Vor fast zwei Monaten schrieb mir Saskia eine E-Mail. 24 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Österreich und vor 4 Jahren aufgrund ihrer Arbeit in die Schweiz gezogen. Sie ist Krankenschwester, und sie wäre gerne bei meinem Projekt dabei.
›Kannst du mir ein bisschen mehr über dich erzählen?‹, schrieb ich zurück.
Der erste Satz ihrer Antwort brachte mich zum Schmunzeln: ›Falls du Menschen suchst, die sich am Ellenbogen lecken können, dann solltest du hier aufhören zu lesen.‹ Ihre Nachricht schien überlegt, einschliesslich dem Teil, in dem sie schreibt, dass ›… sie sehr gerne backt, da das Leben viele saure Seiten beinhaltet. Damit könne sie sich und anderen Menschen den Tag versüssen.‹.
Ein paar Wochen verstreichen, das Coronavirus ist nun in aller Munde, und eines Tages fällt mir ihre Nachricht wieder ein. ›Ich würde gerne etwas über dich schreiben in dieser Zeit‹, schreibe ich ihr.
›Ich helfe gerne‹, ist ihre Antwort und somit rufe ich sie ein paar Tage später an. Dieses Mal bin ich nicht mehr so nervös. Es ist der 17. April.
»Hallo?«
»Hallo Saskia. Super dass es klappt.«
»Ja klar.«
»Du wohnst in Aarau, oder?«
»Nein, ich arbeite nur dort. Habe ich es falsch geschrieben?«
»Ah nein, ich liege falsch.«
Es kann seltsam sein, die Stimme von jemandem das erste Mal zu hören, wenn man vorher nur schriftlich kommuniziert hat. Zu Beginn scheint Saskia etwas scheu – kein Wunder, da jemand, den sie nicht kennt, ihr irgendwelche Fragen stellen will. Ich erkläre mir ihre Idee. »Beantworte nur das, wobei du dich auch wohlfühlst«, füge ich hinzu.
Ich würde gerne wissen, wie es ihr so geht momentan. »Es ist nicht so viel anders für mich als sonst«, sagt sie. »Die Menschen, mit denen ich allgemein am meisten Kontakt habe, sind die Leute bei der Arbeit. Und aufgrund der aktuellen Situation habe ich kein schlechtes Gewissen nein zu sagen. Ich kann schlecht nein sagen. Ich versuche das Gute in jedem und allem zu sehen, was vielleicht nicht immer die beste Strategie ist.«
Saskia erzählt, dass sie in die Schweiz gezogen ist, weil ihr Job ihr hier mehr Möglichkeiten bietet.
»Fallen dir Unterschiede auf in unseren Lebensgewohnheiten?«, frage ich.
»Es ist nicht wertend gemeint, aber in Österreich tendieren die Menschen dazu etwas spontaner zu sein. Wenn ich jemandem schreibe, treffen wir uns manchmal 10 Minuten später. Ich denke, dass Spontanität dazu beiträgt, Beziehungen zu vertiefen. Als ich weggezogen war, verlor ich ein paar Freundschaften … du merkst, welche oberflächlich waren und welche nicht. Die meisten Menschen, die mir nahestehen, leben in Österreich. Ich vermisse sie und mir bereitet es Schwierigkeiten, nicht zu wissen, wann ich sie wiedersehen werde. Mit einer Freundin telefoniere ich jeden Tag. Ich kenne sie seit wir 9 Jahre alt sind. Sie hat gerade eine Trennung zu verarbeiten, und wenn ich in Österreich wäre, würden wir uns jeden Tag sehen. Die letzten Wochen haben uns beide stark gemacht, ich wusste nicht, dass wir uns so nahestehen würden. Ich dachte, dies würde mit einer anderen Person passieren.«
»Wie schwer war es für dich vor 4 Jahren Österreich zu verlassen?«
»Es war sehr schwer für mich. Ich hatte für meine Oma gesorgt, die schwer krank und fast blind war. Ursprünglich war sie wegen meines Opas von Deutschland nach Österreich gekommen. Sie hatten ein Haus, und der Wunsch meiner Oma war es, dort zu bleiben und nicht ins Altersheim zu gehen. Sie liess mich wissen, dass sie das Beste will für mich. Wenn ich in die Schweiz ziehen wolle, solle ich das tun. 10 Stunden Fahrt mit dem Auto liegen dazwischen. Als ich das erste Mal gefahren bin, weinte ich fast die ganze Zeit. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, meine Oma zurückzulassen. Ein halbes Jahr später starb sie. Es war wie ein Schlag, ich realisierte plötzlich, wie weit weg ich eigentlich war. Dass ich meinen Teil dazu beigetragen hatte, ihren Wunsch zu erfüllen, gab mir eine gewisse innere Ruhe.«
Sie erzählt mir, dass nach 2 Jahren Fernbeziehung ihr Freund schliesslich ebenfalls in die Schweiz zog.
»Wie wäre es für dich, wenn du in dieser Zeit alleine leben würdest?«, frage ich.
»Ich habe kein Problem alleine zu sein, aber ich könnte mir das Leben ohne ihn nicht vorstellen. Am Abend wartet jemand auf dich. Er kennt mich so gut. Er kennt meine Freunde in Österreich, er kannte meine Oma … er weiss, wie ich mich fühle.«
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5 Tage später entschied ich mich, eine Ausnahme zu machen. Ich traf sie und fotografierte sie. Von weitem. Ich kenne diese Gegend aus meiner Jugendzeit, und ich erhalte das Gefühl, dass ich Saskia ebenfalls bereits gut kenne.
»Warum hast du mir das eigentlich alles erzählt?«, frage ich sie an diesem Tag.
»Das sind meine Erfahrungen … jeder macht seine eigenen. Warum sollte ich mich verstecken?«