April 2020, Aarau (Schweiz)

»Saskia, wie war das für dich, Freunde und Familie zurückzulassen?«

Menschen zu finden, die ihre Geschichte erzählen wollen, war nie eine Hürde. Entweder fand ich sie über mein persönliches Umfeld oder die Online-Welt. Am 1. März 2020, kurz vor dem Lockdown – wovon ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts ahnte –, machte ich in den sozialen Medien meinen ersten Aufruf. In den nächsten Jahren sollten einige weitere folgen.
›Für mein Projekt suche ich Freiwillige‹, begann die Beschreibung.
Zu meiner Überraschung meldeten sich mehrere Dutzend Personen. So auch Saskia.

Über E-Mail schrieb sie mir, sie sei 24 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Österreich und vor vier Jahren aufgrund ihrer Arbeit als Krankenschwester in die Schweiz gezogen.
›Kannst du mir ein bisschen mehr über dich erzählen?‹, schrieb ich zurück.
Der erste Satz ihrer Antwort brachte mich zum Schmunzeln: ›Falls du Menschen suchst, die sich am Ellenbogen lecken können, dann solltest du hier aufhören zu lesen.‹ Ihre Nachricht schien überlegt, einschliesslich des Teils, in dem sie schrieb, dass ›… sie sehr gerne backt, da das Leben viele saure Seiten beinhaltet. Damit könne sie sich und anderen Menschen den Tag versüssen‹.

Ein paar Wochen verstrichen, das Coronavirus war in aller Munde, und plötzlich fiel mir ihre Nachricht wieder ein. ›Ich möchte in dieser Zeit etwas über dich schreiben‹, teilte ich ihr mit.
›Ich helfe gerne‹, war ihre Antwort. Somit rief ich sie ein paar Tage später an. Es war der 17. April.

»Hallo?«
»Hallo Saskia. Super, dass es klappt.«
»Ja, klar.«
»Du wohnst in Aarau, oder?«
»Nein, ich arbeite nur dort. Habe ich es falsch geschrieben?«
»Ah nein, ich liege falsch.«

Es kann seltsam sein, das erste Mal die Stimme von jemandem zu hören, mit dem man vorher nur schriftlich kommuniziert hat. Zu Beginn schien Saskia etwas scheu – kein Wunder, da jemand, den sie nicht kannte, ihr irgendwelche Fragen stellen wollte. Ich erklärte ihr meine Idee. »Beantworte nur das, was sich richtig anfühlt«, fügte ich an.

Ich wollte wissen, wie es ihr ergeht.
»Für mich ist es kaum anders als sonst«, sagte sie. »Die Menschen, mit denen ich am meisten Kontakt habe, sind die Leute bei der Arbeit. Und aufgrund der aktuellen Situation habe ich kein schlechtes Gewissen, nein zu sagen. Ich kann schlecht nein sagen. Ich versuche das Gute in jedem und allem zu sehen, was vielleicht nicht immer die beste Strategie ist.«

»Fallen dir in unseren Lebensgewohnheiten Unterschiede auf?«, fragte ich.
»Es ist nicht wertend gemeint, aber in Österreich tendieren die Menschen dazu, ein wenig spontaner zu sein. Wenn ich jemandem schreibe, treffen wir uns manchmal zehn Minuten später. Ich denke, dass Spontanität dazu beiträgt, Beziehungen zu vertiefen. Seit ich weggezogen bin, habe ich ein paar Freundschaften verloren … du merkst, welche oberflächlich waren und welche nicht. Die meisten Menschen, die mir nahestehen, leben in Österreich. Ich vermisse sie und es bereitet mir Schwierigkeiten, nicht zu wissen, wann ich sie wiedersehen werde. Mit einer Freundin telefoniere ich jeden Tag. Ich kenne sie, seit wir neun Jahre alt sind. Sie hat gerade eine Trennung zu verarbeiten, und wenn ich in Österreich wäre, würden wir uns jeden Tag sehen. Die letzten Wochen haben uns beide stark gemacht, ich wusste nicht, dass wir uns so nahestehen. Ich dachte, dies würde mit einer anderen Person aus meinem Umfeld passieren.«

»Wie schwer war es für dich, Österreich vor vier Jahren zu verlassen?«
»Es war sehr schwierig. Ich sorgte für meine Oma, die schwer krank und fast blind war. Ursprünglich war sie wegen meines Opas von Deutschland nach Österreich gezogen. Sie hatten ein Haus, und der Wunsch meiner Oma war es, dort zu bleiben und nicht ins Altersheim zu gehen. Sie liess mich wissen, dass sie das Beste für mich will. Wenn ich in die Schweiz ziehen will, solle ich das tun. Zehn Stunden Fahrt mit dem Auto liegen zwischen unseren Wohnorten. Als ich das erste Mal gefahren bin, weinte ich fast die ganze Zeit. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, meine Oma zurückzulassen. Ein halbes Jahr später verstarb sie. Da realisierte ich, wie weit weg ich eigentlich bin. Wenn ich meine Familie in Österreich besuche, kaufe ich Blumen und lege sie an Omas Grab. Es ist kein trauriger Moment, sondern fühlt sich eher so an, als würde ich sie wie gewohnt besuchen. Bereits zu ihren Lebzeiten brachte ich ihr manchmal Blumen vorbei. Das mochte sie.«

Nach zehn weiteren Minuten beendeten wir das Gespräch, worauf ich die Geschichte schrieb, die du soeben gelesen hast.

Fünf Tage später entschied ich mich, eine Ausnahme zu machen. Ich traf Saskia und fotografierte sie. Von weitem. Diese Gegend – im Hintergrund der Staufberg mit Kirche – kannte ich bereits aus meiner Jugendzeit. Und ich erhielt das Gefühl, dass ich Saskia ebenfalls bereits gut kenne. Doch vielleicht war das bloss Einbildung?

»Warum hast du mir das eigentlich alles erzählt?«, fragte ich sie an diesem Tag.
»Das sind meine Erfahrungen … jeder Mensch macht seine eigenen. Warum sollte ich mich verstecken?«

Ab diesem Moment faszinierte mich der Gedanke, fremde Menschen auf eine Art und Weise kennenzulernen, wie es ansonsten kaum möglich schien. Im Laufe der kommenden drei Jahre erkannte ich, dass manche Lebensgeschichten ganze Bücher füllen könnten und dass andere wiederum nur wenige Worte benötigen, um ihre Botschaft zu transportieren. Auch lange Zeit nach der Begegnung mit Saskia reise ich noch immer mit Begeisterung in mir unbekannte Welten, die mir schlussendlich ein wenig vertrauter werden.