Juli 2025, Interlaken (Schweiz)

»Barbara, warum hast du dieses grosse Vertrauen in andere?«

(Lesedauer: ca. 10 Minuten)

Barbara lebt in einem Inselhaus mitten in den Schweizer Bergen. Das drei Hektar grosse Grundstück erstreckt sich vom Tal hangaufwärts, mehr als die Hälfte davon ist Wald. Ein Ort wie in einem Film. Und dessen Protagonisten wollte ich unbedingt kennenlernen.

Warum plötzlich ein Mann mit Aktenkoffer den Weg hochkam, ob sich Barbara im kommenden Ruhestand zur Ruhe setzt und wen man in einer Hütte im Wald manchmal antrifft … all das und mehr erzählt Barbara in dieser Geschichte.

Bevor es losgeht: Ich suche regelmässig nach Personen, die wie Barbara einen ehrlichen Einblick in ihr Leben geben möchten. Bei Interesse melde dich bei mir über das Mitmach-Formular oder teile auf dieser Seite eine besondere Erinnerung von dir.



 

Es gibt Orte, die sind mit Worten schwer zu greifen. Wie ein Gemälde bewegen sie etwas in einem, ohne zu verraten, warum.
Barbara und ich hatten vor dem Treffen nur wenige Minuten telefoniert. Was mich genau erwartete, wusste ich ebenso wenig wie die Tatsache, ob Barbara alleine lebt oder mit ihrer Familie. Am Schluss meines Besuchs würde ich ihr die Frage stellen, die ich fortan allen Menschen stelle: »Welche Erinnerung willst du nicht vergessen?«
Für manche leicht, für andere kaum zu beantworten.

Die Nachmittagshitze drückte auf das Tal, als ich durch das Dorf am Fusse der Schynigen Platte wanderte und eine Abzweigung Richtung Südhang nahm. Die Wege waren verlassen, aus der Ferne hörte ich die Motorengeräusche der Hauptstrasse. Nach ein paar Häusern führte der Pfad in eine Wiesenlandschaft, an dessen Ende ein gedrungener Schuppen lag. Dahinter verdichtete sich der Wald, und ich wusste, dass ich nach einem kurzen Aufstieg auf eine ausgedehnte Lichtung stossen würde, wo Barbaras Haus auf einem regelrechten Terrassenplatz der Alpen lag. In meiner Vorstellung hatte sich ein Bild verfestigt, das ich bereits bewunderte, ohne zu wissen, ob es der Wahrheit entsprach.

Doch zum Abgleich mit der Realität sollte es vorerst nicht kommen. Unterhalb des Schuppens machten sich zwei Personen an einer Hecke zu schaffen. Helle Haare leuchteten im Sonnenlicht auf, und im nächsten Moment rief mir eine Frau zu. Mit bedachten Schritten watete sie durch das trockene Gras, in ihrem Gang lag was Gelassenes, Unaufgeregtes, als gäbe es in ihrem Alltag keine Eile. Bereits während unseres Telefonats schien es mir, dass an Barbaras Stimme ihr Grundvertrauen in Menschen gut zu erkennen ist. Sie erinnerte mich an eine Mutter, der man ohne Hemmungen alles anvertrauen konnte.

»Ich lasse jetzt die Hühner raus«, sagte sie. »Im Garten gibt es Zwiebeln zu ernten, danach gehen wir hoch zum Haus. Fotografiere ruhig alles, was du möchtest.«
»Bei deinem Haus ist es vermutlich ein wenig kühler?«, fragte ich mit leiser Hoffnung.
»Es ist heisser.«
»Tatsächlich?«
Ihrer Antwort mischte sich ein herzliches Lachen bei. »Ja, deutlich heisser.«
Ich schaute um mich. »Dein Grundstück ist wirklich riesig.«
»Drei Hektar, zwei Drittel ist Wald. Vor einem Jahr – da war ich bereits vier Jahre hier – kam ein Mann mit Hemd und Aktenkoffer den Weg hoch. Ein ungewöhnliches Bild. Ich fragte ihn, wohin er müsse, denn der Weg ist privat, auch wenn alle willkommen sind, meinen Garten anzuschauen.
Er meinte, er müsse hoch zum Haus.
Ob er was Bestimmtes suche, fragte ich, und er schaute ein wenig verdutzt und sagte, das Haus solle verkauft werden.
›Mein Haus? Das kann nicht sein.‹
›Das kann wirklich nicht sein‹, meinte er.
Wir stellten fest, dass er eine kleine Holzhütte ansteuerte, die im Wald dreissig Meter aufwärts meines Hauses liegt. Beim Erkunden der Gegend hatte ich die Hütte schon entdeckt, sie war komplett von Bäumen umstellt, abgeschirmt, mit einer kleinen Veranda. Passend für Uwe, doch daran dachte ich in dem Moment noch nicht. Ich teilte dem Makler mein Interesse mit, damit wuchs mein Grundstück auf die Grösse an, die es heute hat.«
»Wer ist denn Uwe?«
»Ein pensionierter Krankenpfleger, der lange Zeit in Basel gelebt hatte und danach bei mir. Du wirst ihn noch antreffen«, sagte sie und schmunzelte, als ich mich den Hühnern näherte. »Du hast Mut, die meisten Leute trauen sich nicht in die Nähe der Hähne.«
»Ich schätze, ich habe noch zu wenig Erfahrung mit Hähnen.«
Denn inzwischen hatte Barbara das Gehege hinter dem Schuppen, der vielmehr ein Stall war, geöffnet. Anfangs schüchtern, begannen die Hühner und die zwei Hähne die Umgebung um den Stall zu erkunden, als sähen sie das Gelände zum ersten Mal. In regelmässigen Abständen krähten sie in die Talsohle hinaus.
Die zweite Person, die bei meiner Ankunft auf der Wiese beschäftigt gewesen war, stellte sich als einen jungen Argentinier mit strahlenden Augen heraus. Sein älterer Bruder kommt jeweils während des argentinischen Winters in die Schweiz, um zu arbeiten, und dieses Jahr ist sein Bruder mitgekommen.

»Bist du hier selten allein?«, fragte ich, denn inzwischen war es klar, dass Barbara im Haus ohne Familie lebte.
»In den warmen Monaten ist das so. Ich bin bei einer Organisation registriert, wo sich Freiwillige melden können, um mir gegen Kost und Logis zu helfen. Heute Abend sollen zwei Franzosen aus der Bretagne ankommen, die waren bereits im Frühling da. Für sie sind das Aktivferien. Doch diese Einsätze biete ich nur in den Schulferien an, meine Arbeit auf dem Hof ist ein aufwendiges Hobby. Ich bin Volksschullehrerin im Handwerksbereich, da habe ich genug Kontakt. Aber wenn ich in zwei Jahren pensioniert werde, wird sich das ändern. Kontakte sind immer das Wichtigste. Sicherlich werde ich dann auch Esel halten, das war schon immer mein Traum. Vielleicht werde ich Eseltrekking anbieten. Als meine Kinder klein waren, schauten wir manchmal zu Eseln, deren Halter in den Ferien waren. Es sind ruhige Tiere, nicht so nervös wie meine Ziegen, und ideal für dieses Land mit dem mageren Gras.«
»Manche setzen sich im Ruhestand sprichwörtlich zur Ruhe, du machst das Gegenteil«, stellte ich fest.
»Nur lesen und Kaffee trinken wäre nichts für mich. Und solange ich mit den Leuten, die mir helfen, umgehen kann, geht das gut. Wenn es im Haus zu lebendig wird, schlafe ich hier unten.« Sie deutete auf einen Wohnwagen, der ein wenig versteckt unter den Bäumen stand. »Den Wecker hat man hier direkt vor der Tür.«

Eine halbe Stunde lang beschäftigte sich Barbara im Garten, pflanzte Setzlinge, grub Erde um, setzte Schneckenkragen ein. »Der Wermut ist eine meiner liebsten Pflanzen, eine wilde Pflanze, die im Wallis überall vorkommt. Wenn man an ihr vorbeigeht, riecht es immer so gut. Ich versuche, den Wermut überall anzupflanzen, habe aber noch nicht den Ort gefunden, der ihm wirklich gefällt.«
Schliesslich setzte sie sich auf ihr dreirädriges Elektrofahrzeug namens Kyburz (so heisst die Marke), das sich ideal zum Austragen von Briefpost eignen würde. Nun hat eines dieser Fahrzeuge das Glück, Ungewöhnliches zu erleben und als Transportmittel die Waldwege hoch- und runterzubrausen, dachte ich amüsiert. Mit dem Gefährt fuhr Barbara wendig über Wurzeln, Steine und durch die Kurven. Ich folgte ihr.

Nach fünf Minuten leichter Steigung führte der Weg aus dem Wald hinaus auf die Lichtung. Das Haus befand sich einige Meter vor mir, wie ein grosser Findling hatte es sich in die Schräglage des Berges gesetzt. An zwei Baumstämmen hing eine Hängematte, Handtücher trockneten an einer Wäscheleine, im Gras lag eine Rutschbahn. Ein Blätterdach aus Weinreben legte den Sitzplatz in Schatten. Dahinter befand sich ein Gartenbeet und eine üppig mit Holz ausgekleidete Komposttoilette. Das Pissoire bestand aus einer auf den Kopf gestellten Pylone, die in Stroh steckte.
»Willst du später auch ein Zitrone-Pfefferminz-Eis?«, fragte sie in der Tür zur Küche stehend. »Meine neuste Errungenschaft ist die Eismaschine, die teste ich aktuell. Da das hier ein Inselhaus ist, sind wir nicht an den Strom angeschlossen, alles kommt von der Photovoltaik. Dabei kann ich immer nur eine Maschine laufen lassen. Backofen, Waschmaschine, Herdplatte oder eben die Eismaschine … damit die Leistung ausreicht.«
»Wie machst du das im Winter?«
»Ich schaue auf das Wetter.«
»Dann siehst du in der Prognose, dass morgen sonnig ist und planst die Wäsche entsprechend ein?«
»Genau, an den kürzesten Tagen habe ich in der Regel zwischen ein und drei Uhr Sonnenschein. Oder ich sehe spontan, dass die Nebeldecke aufreisst. Den Himmel zu beobachten, das tat ich früher selten, dabei zeigt er uns so viel.«
»Hast du dich an diesem Ausblick gewöhnt?«
Sie schaute mich an. »Ein bisschen, aber vollständig zum Glück nicht. Am liebsten schlafe ich im Dachgeschoss, wo du den Kopf direkt neben dem Fenster hast und wirklich nahe beim Himmel bist.«

Nach kurzer Zeit kam ein älterer Mann mit Einkaufstasche den Weg hoch, er ging leicht nach vorne gebückt, setzte sich zu uns. Er sagte, das sei sein Trainingsprogramm. Mit seinem Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte, erinnerte er mich an Rick Rubin, einen amerikanischen Musikproduzenten, dessen Interviews online kursieren. Und ich fand, dass Uwe sich ebenso eloquent ausdrücken konnte. Er sprach gemächlich und mit hellem Unterton; zwischendurch blätterte er in Barbaras Buch für Eisrezepte, trank Kaffee und besprach mit Barbara die anstehenden Mäharbeiten.
»Uwe lebte mit einer Freundin in Basel in einer Wohngemeinschaft«, erzählte mir Barbara später. »Uwes Mitbewohnerin fragte mich, ob Uwe nicht zu mir kommen könne. Es war November oder Dezember. Uwe suchte die Ruhe und ich meinte zu ihm, im Winter sei ausser mir niemand hier, aber nachher würde es einige Leute geben. Und ich dachte, das wäre nichts für ihn. Er wohnte im Winter bei mir, fand währenddessen eine Wohnung im Dorf. Doch dann passierte die Sache mit dem Makler und ich dachte, dass diese Hütte doch ein idealer Rückzugsort wäre für ihn. Er liest viel. Manchmal sehe ich ihn ein paar Tage nicht. Interessanterweise kommt er eher zu mir runter, wenn Leute da sind.«

Als ich schliesslich mit Barbara einen Blick in die Hütte werfen konnte (während Uwe beim Haus blieb), fühlte ich mich wie in einem Museum, das einen Raum aus früherer Zeit ausstellte. In einer Ecke stand ein schmales Bett, am Fenster ein Holztisch mit Teller und Besteck. Auf einem Regal an der Wand reihten sich CDs. Durch die Baumkronen fiel nur wenig Tageslicht in den Raum. Vor der Veranda stapelten sich Holzscheite, einige davon zerkleinerte Barbara mit einer Kettensäge, damit sie Uwe später für den Ofen spalten konnte.
Hier oben war man wahrlich ganz allein, kaum jemand würde sich hierher verirren. Ich glaube, dass man in dieser Stille hervorragend nachdenken kann, sofern die Gedanken einen auch wieder gehen lassen. Als ich mit Barbara den Pfad zurück zum Haus hinabstieg, wirkte es so, als würden wir in die Zivilisation eintreten.

Den Rest des Nachmittages verbrachten wir gemütlich im Schatten. Auch da war eine Frau namens Sibylle, die mit einer Sense die Wiese am Hang neben dem Haus bearbeitete. Reine Freizeitbeschäftigung, wie sie mir erzählte.
»Sybille kommt jeweils vorbei und schaut, ob ich alles richtig mache«, meinte Barbara scherzhaft.

Als ich am Abend aufbrach, war mein Wunsch, in zwei Tagen nochmals vorbeizukommen. Dann sei die Wiese unten beim Stall gemäht, und ich könne Fotos vom Heuen machen. Dabei lernte ich auch die beiden Personen aus der Bretagne kennen. Während sie das Heu in Tücher packten und mit dem Kyburz in den Stall transportieren, verstärkte Uwe unter der Nachmittagssonne unermüdlich den bestehenden Zaun mit zusätzlichen Pfählen.
»Soll ich dir helfen?«, frage ich ihn, denn ich hatte ein wenig Zeit.
»Nein, nein, danke, ich habe alle Zeit der Welt. Ich habe sonst nichts zu tun.«
»Du musst nirgends mehr hin«, scherzte ich.
»Dieser Ort ist mehr als ausreichend«, sagte er, ohne von der Arbeit abzulassen.

Schliesslich setzte ich mich mit Barbara unter die Bäume neben den Wohnwagen, wo sie mir Antwort auf meine verbleibende Frage gab. Alle drei Minuten krähte ein Hahn.

»Vor vierzig Jahren, als ich zwanzig war, suchte ich eine Stelle als Oberstufenlehrerin. 120 Leute erteilten mir eine Absage, das entmutigte mich ein wenig. Bis ein Ehepaar, das hier in der Nähe ein Jugendheim führte, mir eine Chance gab. Der Heimleiter sagte, ich solle das unbedingt versuchen, entweder es ginge, oder es ginge nicht. Das erstaunte mich. Somit führte mich diese Stelle von der Stadt in die Berge.

Im Heim lebten Jugendliche, die vom Jugendgericht eingewiesen worden waren, weil sie Häuser angezündet, Trams entführt hatten … solche Sachen. Es kam ganz darauf an, wie du eine Beziehung zu ihnen aufbauen konntest, ich würde nicht behaupten, dass sie schwierig im Umgang waren. Wir führten sie unbewusst nach den Prinzipien der Neuen Autorität, das ist heutzutage ja in aller Munde.

Neben dem Heim hatte ich eine kleine Wohnung mit Holzofen. Und der Junge, der sein Elternhaus angezündet hatte, feuerte jeweils unaufgefordert vor meiner Rückkehr von der Arbeit den Ofen ein, um die Wohnung zu wärmen. Anfangs schauderte es mir, doch ich hatte Vertrauen in ihn. Das Feuer faszinierte ihn, das konnte ich nachvollziehen, und mit seiner bösen Mutter wäre ich vielleicht auch in Versuchung geraten, deren Haus anzuzünden. Manchmal kamen die Kinder abends zu mir, um zu spielen oder zu kochen, wenn sie nicht im Heim essen wollten. Wir waren wie eine grosse Familie, doch nicht ohne Grenzen.

Einmal kam der Heimleiter auf mich zu: Uh, es mache ihm Angst, ein kleines Mädchen käme. Und er wisse nicht, ob das funktioniere mit den Grossen. Denn die meisten waren zwischen vierzehn und achtzehn, und das Mädchen war erst elf, noch dazu ganz klein. Die Mutter und die Grossmutter fingen sich Bisswunden ein. Das Mädchen kletterte von der Dachrinne des dreistöckigen Hauses, weil es nicht nach draussen durfte. Sie war ganz eng geführt, hatte keine Beziehungen. Doch im Heim blühte sie auf, turnte an den Älteren herum, als wäre nichts dabei. Sie kam sogar mit mir in die Ferien, wir fuhren zusammen Ski. Als ich mit 27 Mutter wurde, endete meine Zeit im Heim, doch der Kontakt zum Mädchen blieb bestehen. Sie kam vorbei, spielte mit meinem Sohn, begleitete uns weiterhin in die Ferien. Und als sie viele Jahre später ebenfalls einen Sohn bekam, wurde ich dessen Patentante.

Das ist schon erstaunlich. Wie wir im Heim dieses Vertrauen hatten ineinander, dabei hätten wir allen Grund gehabt, einander zu misstrauen. Ich gebe das bis heute weiter, wenn Menschen zu mir kommen und helfen wollen. Anstatt zu denken, was sie alles falsch machen könnten, denke ich daran, was sie alles richtig machen werden.«



 

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