Januar 2024, Winterthur (Schweiz)

»Eileen, wie hat sich dein Neubeginn angefühlt?«

Als wir am Tisch im hellen Wohnbereich sitzen, erzählt Eileen eine Anekdote, die erklärend ist für das, was gewesen war:

»Als eine Freundin nach ihrem Besuch gegangen war und ich kurz vor dem Schlafengehen im Pyjama die Küche aufräumte und den Mülleimer öffnete, durchfuhr es mich kalt. Meine Freundin hatte ihre leere Zigarettenschachtel hineingeworfen. Eigentlich nichts Aussergewöhnliches, trotzdem durfte die Schachtel nicht dort liegen. Hastig nahm ich sie, eilte zur Tür, hatte den Schlüssel bereits in der Hand, fest entschlossen, die Schachtel am nahegelegenen Bahnhof zu entsorgen. Rechtzeitig kam ich zur Besinnung, dass mich die Vergangenheit eingeholt hatte und ich nichts zu unternehmen brauchte. Ich wohnte ja nun in meiner eigenen Wohnung.«

Ich überlege, ob man sich insgeheim wünscht, dass das Leben als gerade Linie verläuft, die abgesehen von kleineren Ausreissern stets nach oben führt. Du vertraust auf eine stabile Grundlage, aber weisst, dass auf einen Schlag alles anders kommen kann. Und dann gehst du zwei Schritte zurück. Oder drei zur Seite und setzt von dort aus deinen Weg fort.

Eileen hat sich damals entschlossen, mit ihren Kindern eine Partnerschaft zurückzulassen, die allen Beteiligten Unrecht tat. Nebst den Habseligkeiten, verpackt in wenige Taschen und Rucksäcke, blieben ihr rund hundert Franken. Dank der Hilfe von vertrauten Menschen hat sie es geschafft, ihr Leben zu stabilisieren und eine Wohnung im Dorf zu finden. Dort treffen wir uns. Die zwei Kinder sind an diesem Tag nicht da.

Unsere Begegnung nahm ihren Anfang, als ich im anonymen Internet die Frage gestellt hatte, welche Momente es sind, in denen jemand über seinen eigenen Schatten gesprungen ist. Eileen schrieb mir, dass das heutzutage banale Dinge seien, die für sie jedoch Grosses bedeuteten: Nudeln ganz rebellisch mit Bouillon anstatt Salz zubereiten oder nach ihrem Rhythmus ins Bett gehen oder Bilder aufhängen. Gerade letzteres sei bei ihrem Einzug etwas vom ersten gewesen.
»Voller Erwartung fragten die Kinder, ob sie einen Nagel einschlagen dürfen. Mit einem ›Go for it!‹ gab ich ihnen das Werkzeug, dessen Handhabung ihnen lange nicht zugetraut worden war. Eine Minute später hämmerte es in ihren Zimmern, und ich wusste, dass wir noch viele erste Male erleben werden, die gerade wegen ihrer Banalität so besonders sind.«

Mit einem Lachen erzählt sie, dass sie sich – als sie halb so alt war wie jetzt –, ein Tattoo am unteren Rücken stechen liess und während der sechsstündigen Sitzung ein aufgeschlagenes Buch vor sich hatte, um für eine Prüfung in Mikrobiologie zu büffeln. Sie wäre gerne Hebamme geworden, aber nun sei die Chance vertan, da sie mit zwei Kindern und zwei Jobs sich keine umfangreiche Ausbildung leisten könne. Doch dieser Gedanke täte nicht weh, sie habe berufliche Perspektiven. Es gelte, ihr altes selbstbewusstes, selbständiges Ich neu zu entdecken.

Als wir für das Foto auf den Balkon treten, der Sonne entgegen, kommt mir ihr Vorhaben in den Sinn, sich zwei weitere Tattoos stechen zu lassen. Eines davon ist ein Leuchtturm, der einen Grossteil des Unterarms ausfüllen soll. Stürmische Wellen, die an kantige Steine am Ufer preschen, und ein strahlender Kegel, der den dunklen Nachthimmel durchschneidet. Auf meine Frage, warum dieses Motiv, antwortet sie, dass es gut sei, ein Licht bei sich zu haben.

 



Ab März 2024 treffe ich Menschen innerhalb eines neuen Formats, in dem es auch darum geht, besondere Leidenschaften zu zeigen. Vielleicht was für dich? Siehe unter Mitmachen.