Oktober 2022, Schweiz

»Wie fühlst du dich, wenn du alleine bist?« (Serie)

Die folgenden Konversationen geben einen kleinen Einblick in das Leben von Menschen, die sich auf einen Freiwilligen-Aufruf zum Thema Introvertiertheit gemeldet haben. Ich sprach mit ihnen über Einsamkeit, Kreativität, das Schaffen von erholsamen Inseln im Alltag, über das Alleinsein und wie sich ihre Einstellung dazu im Laufe der Jahre geändert hat. Besucht und fotografiert habe ich die Menschen an ihrem bevorzugten Rückzugsort.

(Lesedauer gesamt: ca. 15 Minuten)
(Text & Fotos: Alexander Rodshtein)


 

Esther

»Dieses Foto strahlt etwas Ungreifbares aus, du könntest fröhlich, traurig oder nachdenklich sein.«
»Das passt zu meinem Innenleben. Ich lebe und spüre viele Facetten. Manchmal dominiert die Leichtigkeit, manchmal die Schwere, und der Wechsel dazwischen ist fliessend.«
»Was ist Leichtigkeit für dich?«
»Die Fühler einziehen, den Moment leben, das Gedankenkarussell und somit das innere Team zum Stillstand bringen. Es gelingt mir leider zu selten und nur dann, wenn ich mich bewusst darauf einlasse oder vielleicht auch dann, wenn ich mich komplett vergesse.«
»Weisst du denn, woher die Schwere kommt?«
»Es ist keine Schwere im Sinne von Traurigkeit. Es ist eine Schwere in Form von Schwingungen, die zurückbleiben. Zu viele Eindrücke, die im Alltag auf mich einprasseln. Begegnungen mit Menschen, die mich zum Nachdenken bringen. Ähnlich einer Kommode sortiere ich die Gedanken in verschiedene Schubladen ein, welche ich danach wieder öffne und neu einsortiere. Nach diesem Gespräch werde ich in meinem Kopf die eine Schublade öffnen und denken: ›Was wird er wohl mit meinen Erzählung anstellen?‹ Danach die Schublade schliessen und eine andere öffnen: ›Wie weit habe ich Introvertiertheit beschrieben und bin nicht all zu fest zur Hochsensibilität rüber gewandert?‹ Schublade zu und wieder eine andere öffnet sich … es zehrt an der Energie.«
»Was empfindest du bei diesen Überlegungen?«
»Der schwankende Energiehaushalt und die damit verbundenen häufigen Pausen, das nervt mich manchmal. Im Alltag stelle ich mir stets ein Ampelsystem vor: Rot bedeutet Überreizung. Dabei reagiere ich auf diesen Stresszustand entweder mit Flucht oder Widerstand, in der Hoffnung, der Situation zu entkommen oder ihr entgegenzuwirken. Starre, wenn die Lage aussichtslos erscheint. Orange ist die Vorstufe und zeigt sich bei mir in Vorboten, zum Beispiel mit starker innerer Unruhe, Erschöpfung, aber auch Verspannungen. Ich überlege mir in diesen Momenten, wie ich zurück in den grünen Bereich gelange; welche Art von Menschen mir guttun, aus welchen Aktivitäten, Gerüchen und Farben ich Kraft schöpfen kann. Es ist eine Suche nach Inseln. Ich mag die Farbe Blau, ich bin gerne am Wasser. Ich erfreue mich an Kleinigkeiten, die ich beim Spazieren finde: Blumen, Steine, Blätter. Manchmal nehme ich etwas mit nach Hause und erfreue mich an den Schätzen. Ich bin wohl eine Sammlerin.«
»Eine Sammlerin von Schönem am Wegrand, sei es ein Kiesweg im Grünen oder ein Weg durch die Vielfalt des Lebens.«
»Pass auf, dass du nicht über Blumen stolperst, hihi.«

 

Sandrine

»Kennst du die Situation, dass wenn du dich entscheidest allein zu sein, du dich dann einsam fühlst?«
»Hmm … ja doch, also erstens ist es sowas wie FOMO, die fear of missing out, also Angst davor, etwas zu verpassen. Und zweitens hat ja jeder Mensch das Bedürfnis nach einer Verbindung. Wenn nun die Personen, mit denen ich gerne Zeit verbringen möchte, nicht verfügbar sind, kann es durchaus vorkommen, dass ich mich einsam fühle. Das ist dann ungewolltes Alleinsein. Allein und einsam … Einsamkeit … es ist ein Gefühl, das ich erst seit kurzer Zeit so spüre, weil ich mir mehr Zeit für mich nehme.«
»Hat das auch mit deinem Umzug in eine neue Stadt zu tun?«
»Das auch, denn die Spontanität ist nicht mehr so da, hier bin ich wirklich gezwungen, mich mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen. Aber es ist nicht so, dass ich dann zu Hause sitze; ich mache die Dinge ja trotzdem. Wandern, baden, essen gehen, verreisen … ich lebe mein Leben nach wie vor. Früher sagte ich mir, Hauptsache ich bin unter Menschen, aber ich war dann mit diesen Menschen nicht wirklich in Verbindung. Nun mache ich die Dinge, die meine extrovertierte Seite beanspruchen, bewusster. Ah genau, das war es, was mich an deinem Aufruf angesprochen hat: das Akzeptieren meiner ruhigen Seite. Gerade weil ich früher viel mehr im Aussen lebte, aufgedreht und kopflos unterwegs gewesen bin, spüre ich, dass es etwas zum Nachholen, etwas zum Hinhören gibt. Ich habe mich gefragt, warum ich mich überhaupt damit auseinandersetzen muss. Es mag sein, dass ich dieser Seite in meiner Kindheit und Jugendzeit zu wenig Aufmerksamkeit schenken konnte. Nun habe ich mich besser kennengelernt.«

 

Aaron

»Ich denke mehr, als dass ich ausspreche. Obwohl, ist das nicht bei allen der Fall?«
»Vielleicht dann, wenn du oft sprechen würdest ohne nachzudenken?«
»Das passiert selten. In manchen Fällen baue ich – wie erkläre ich das am besten? – sowas wie versteckte Andeutungen in die Sätze. Meine Mutter kenne ich so gut, dass ich sofort merke, wenn sie einen schlechten Tag hat. Aber direkt fragen würde ich sie das nie.«
»Du stellst Fragen so, dass du mehr erfährst, als wonach du eigentlich gefragt hast?«
»Genau.«
»Warum fragst du deine Mutter nicht direkt?«
»Ich kann nicht genau sagen, warum, aber auf den ersten Blick wirkt unser Verhältnis distanziert. Wir umarmen uns nie, geben uns keinen Kuss auf die Wange … auch in meiner Kindheit machten wir das nicht. Meine Mutter hätte keine Mühe, mich zu umarmen, doch aus Gründen, die ich nicht benennen kann, bin ich gehemmt.«
»Hast du allgemein Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen?«
»Eigentlich nicht, denn bei meinem Vater ist es seltsamerweise anders, ihn umarme ich ohne Hemmungen. Doch ich muss gestehen, dass in den letzten zwei, drei Jahren Dinge passiert sind, nach denen ich etwas abgekühlt bin. Ich bin verschlossener geworden, treffe nicht mehr so gerne neue Menschen wie früher. Mit manchen Personen schreibe ich seit Monaten, getroffen habe ich sie jedoch noch nicht. Immer weil ich Bedenken davor habe, dass in der Wirklichkeit alles anders ist und es dann zu Ende geht.«
»Würdest du sagen, dass du oft nostalgisch bist?«
»Nein, das nicht. Ich bin ein fröhlicher Mensch. Zwar sind meine Gedanken eher in die Vergangenheit gerichtet, denn zu stark in der Zukunft zu leben … du weisst ja nicht, was morgen passiert. Natürlich versuche ich so oft es geht in der Gegenwart präsent zu sein. Klar, in manchen Momenten muss ich auf andere Gedanken kommen, und hier ist einer der Orte, wo ich gerne hingehe. Ich denke an meine Kindheit, als wir oft mit dem Hund in dieser Schlucht spazieren waren. Da fällt mir ein, was ich noch erwähnen wollte: Ich hatte mit vier Jahren eine Nahtoderfahrung. Meine Mutter hat mich gerettet, ohne sie wäre ich vielleicht nicht hier. Ich sage gerne, dass ein Blick mehr offenbart als Worte, sei es bei Fotos oder im realen Leben. Wenn meine Mutter und ich uns anschauen, wissen wir, dass wir einander dankbar sind.«

 

Kitty

»Ist das in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufzeichne? Dann kann ich es später nochmals anhören.«
»Huch, ja, ich werde einfach versuchen, dies auszublenden.«
»Bist du nervös?«
»Durchaus.«
»Kannst du mir bei dieser Gelegenheit nochmals beschreiben, wie die Agoraphobie dein Leben beeinflusst?«
»Ich meide viele Situationen im Alltag. Öffentliche Verkehrsmittel sind keine Option für mich. Jemand sitzt hinter dir, jemand vor dir, neben dir … all diese Blicke, Eindrücke und Emotionen überfordern mich. Wenn jemand lacht, muss es über mich sein. Wenn mich jemand schräg anschaut, kann er nur Schlechtes im Sinn haben. Diese Gedanken sind in mir verankert.«
»Und das passiert auch auf öffentlichen Plätzen, wenn du nicht siehst, wer hinter dir steht?«
»Genau, obwohl gerade letzthin war ich in einem Skatepark. Ein Gewühl von Menschen, ich stand vorne, gab mich der Musik hin und fühlte mich frei. Ich war überrascht, dass es in seltenen Fällen doch möglich ist. Für einmal nicht zu Hause verkriechen, das war schön.«
»Aber du hast Wege gefunden? Hier, wo wir jetzt sitzen?«
»Ja, Autofahren ist befreiend.«
»Warum genau ist es befreiend?«
»Es ist ein Zusammenspiel von so vielen Elementen. Du drehst den Schlüssel, die Zündung reagiert, der Funken springt und der Motor läuft an. Du allein bewegst diese Masse an Metall. Es ist ein Gegensatz: Stets konzentriert sein, die Strasse im Überblick haben, sich der Gefahr bewusst sein, und gleichzeitig die Unbeschwertheit spüren. Ich kann mich am Lenkrad festhalten, das gibt mir Sicherheit. Alles hinter mir lassen, Musik hören, das Fenster runterkurbeln, die Hand ausstrecken und den Wind spüren … es ist wie eine frische Meeresbrise. Und mit dem gelben Licht unter dem Armaturenbrett habe ich den Sonnenuntergang immer dabei. Bei diesem Auto spürst du noch Kraft der Bewegung, die Vibration, den Motor, die gesamte Mechanik. Zusätzlich diese Scheinwerfer, die ich auf- und zuklappen kann … ist das nicht toll?«

 

Vivienne

(1/2)
›Hey Alex, ich würde mich gerne als Freiwillige für deine Serie zu introvertierten Menschen melden.‹
›Hey Vivienne, danke für deine Nachricht, ich bin momentan noch nicht ganz sicher, ob ich bereits genug Leute habe oder nicht. Kannst du mir ein paar Eckpunkte zu deiner Person geben, damit ich eine Vorstellung bekomme, wer du bist?‹
›Situationen, wo viel Menschen anwesend sind, habe mich schon immer eingeschüchtert, und mir fällt es schwer, über mich selber zu reden. In vielen Situationen bin ich zwar die freundliche, aber sehr stille Person im Hintergrund. Im Moment versuche ich all das zu verbessern, indem ich in der Gastronomie arbeite, wo ich jeden Tagen mit neuen Menschen in Kontakt trete und wo ich aktiv auf fremde Menschen zugehe, die mir sympathisch und interessant erscheinen. Ich hoffe, das gibt dir einen kleinen Eindruck.‹
›Vielen Dank, das tönt interessant. Was meinst du, wollen wir uns vorgängig kurz treffen um uns kennenzulernen? Dann hast du immer noch die Möglichkeit, abzusagen, wenn du merkst, es fühlt sich nicht richtig an für dich.‹

(2/2)
»Erinnere ich mich richtig, dass du mir gesagt hast, dass dir dein Lachen auf Fotos meistens nicht so gefällt?«
»Genau, aber in diesem Fall gefällt’s mir wirklich gut.«
»Als ich dich vor einem Monat das erste Mal sah, dachte ich mir: ›Was, du bist Vivienne?‹ Im positiven Sinne, meine ich. Hilft dir die Arbeit in der Gastronomie in Situationen wie dieser zwischen uns beiden hier?«
»Ja, oh ja. Ich habe mir überlegt, warum ich hier überhaupt mitmachen will. Ich muss mich überwinden und aus meiner Komfortzone heraustreten. Sollte ich einen neuen Job beginnen, wird es ebenso sein. Ich werde versuchen, mit möglichst vielen Personen zu reden. Auf sie zuzugehen und zu sagen: ›Hey, ich bin Vivienne, ich bin neu hier.‹ Zudem will ich Gespräche führen können, die tiefer gehen, denn Smalltalk ist doch eher langweilig.«

 

Lynn

»Ich sehe, wie andere Menschen sich kleiden, bewegen, miteinander sprechen und ob sie dabei selbstsicher sind oder nicht. Manchmal male ich mir eine Geschichte dazu aus; vielleicht hat jemand eine langersehnte Zusage bekommen, vielleicht wurde jemand enttäuscht, überrascht oder verletzt.«
»Machst du dir auch Gedanken, wie andere dich wahrnehmen?«
»Auf jeden Fall, heute jedoch weniger als früher. Ich war unsicherer, hatte das Gefühl, mit jeder Person, die mir gegenübersitzt, ein geniales Gespräch führen zu müssen.«
»Und heute?«
»Es mag sein, dass wenn wir uns verabschiedet haben, ich mir unser Gespräch nochmals durch den Kopf gehen lasse und mich frage, ob ich mich besser hätte ausdrücken können. Aber ich mache mir weniger Druck deswegen.«
»Was passiert, wenn dein Gegenüber eine ruhige Person ist, so wie du?«
»Wenn wir uns nur halbwegs kennen, ist es schwierig für mich, mich zu öffnen. Vorher, als ich auf dem Bett sass und du kurz die Fotos auf der Kamera durchgesehen hast, wusste ich auch nicht so recht, wie ich auf diese Stille reagieren soll.«
»Was geht dir dann durch den Kopf?«
»Ich überlege, was wir besprochen haben und was ich als nächstes sagen könnte.«
»Sprichst du manchmal aus, dass du nicht weisst, was du sagen sollst?«
»Ja, ich habe gelernt, dass dies die Situation auflockert.«

 

Ben (19)

»Du wirkst selbstbewusst für dein Alter. Ich hätte dich auf Mitte zwanzig geschätzt.«
»Das höre ich hin und wieder.«
»Du hast mir am Telefon gesagt, dass du dich vor einem Jahr stark zurückgezogen hast. Gab es einen bestimmten Grund?«
»Ich hatte eine Trennung hinter mir und schraubte zwei Wochen lang fast ununterbrochen in der Werkstatt herum. Bei einigen Menschen meldete ich mich nicht mehr, und sie taten es auch nicht. Ein paar wenige blieben meine Freunde, das reicht mir vollkommen. Ich habe viele Bekanntschaften, man sieht sich unterwegs, plaudert und geht wieder nach Hause. Doch dass eine Freundschaft entsteht, ist bei mir schwieriger geworden. Ich habe mehr Mühe zu vertrauen.«
»Warum genau hast du dich nicht mehr gemeldet?«
»Ich fühlte mich missverstanden. Und irgendwann schottest du dich auch von denjenigen ab, die dir guttun.«
»Denkst du, du wirst in Zukunft wieder offener sein für Menschen in deinem Leben?«
»Vermutlich schon.«

 

Birte

»Ich bin überzeugt davon, dass wir in der heutigen Zeit viel mehr spüren müssten. Man muss nicht immer sehen, sondern kann auf das Innere vertrauen. Ich handle oftmals mit Herz und Intuition, vor allem im Kontakt mit Menschen oder Menschengruppen. Das hat viel mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Menschen haben sich von mir abgewendet, weil ich mich selbst war. Rückblickend war ich schon immer ein wenig sonderbar, fühlte mich missverstanden. Hier in meinem Zuhause spüre ich Geborgenheit. Manchmal beginne ich um zehn Uhr nachts ein Bild, tauche in eine Welt voller Flow und Kreativität ein. Dann bin ich zentriert und ganz bei mir und lebe nicht im Aussen. Meine Paula leistet mir oftmals Gesellschaft, liegt auf dem Tisch oder auf meinem Schoss. Malen kann ich stundenlang, und wenn ich ein Bild begonnen habe, muss ich es in einem Zug beenden. Es kommt immer wieder vor, dass ich um drei Uhr morgens ins Bett gehe und vier Stunden später zur Arbeit fahre.«
»Was müsste man über dich wissen, damit du dich verstanden fühlst?«
»Das ist kompliziert zu erklären … ich überdenke sehr viel, bin manchmal flatterhaft, vielleicht merkst du es an meinen Ausführungen. Ich geniesse es auch mal allein zu sein, werkle dann im Stillen vor mich hin. Mein Leben ist nach aussen hin ein stilles, unaufgeregtes Leben. Meine Beständigkeit liegt im Wechsel, ich denke, das ist das Leid der kreativen Menschen … dass sie chaotisch sind mit ihren Ideen, wodurch die Kreativität erst aufblühen kann. In meinem Leben gehe ich keine gerade Linie, sondern bin sprunghaft. Ich habe acht Jahre bei der Bundeswehr gedient und bin zur See gefahren. Dann habe ich eine Ausbildung zur Informatikerin gemacht und nun arbeite ich als Therapeutin. Sprunghaft bin ich auch im Kleinen: Meine Wohnung stelle ich immer mal wieder um; mal verschreibe ich mich dem Minimalismus, mal stelle ich in jede Ecke eine Pflanze, ein Bild oder kleine Schätze.
›Brauchst du wirklich so viele Dinge und all diese Veränderungen?‹, werde ich manchmal gefragt. Ich antworte darauf jeweils, dass mir diese Dinge Halt und Geborgenheit geben. Letztendlich läuft es doch immer darauf hinaus, was wir uns alle wünschen: So angenommen zu werden, wie wir wirklich sind und dafür das passende Umfeld zu finden. Im Aussen, wie auch im Innen.«

 



Mehr Kurzform-Geschichten findest du in der Memothek, wo Menschen erzählen, was sie nach Jahren erkannt haben.