Juli 2024, Brugg (Schweiz)

»Jessy, welche Erinnerungen legst du in deinem Garten an?«

Das hölzerne Gartentor – so zumindest in meiner Erinnerung – ist unscheinbar zwischen zwei Hausmauern eingesetzt, so als wäre der Ort dahinter ebenso unscheinbar. Und für manche wird er das tatsächlich sein. Irgendein Garten in irgendeinem Dorfkern.

Ich passierte das Tor und sah Jessy zum ersten Mal, aber ihr Name lag schon lange in meinem Postfach. So lange, dass ich ihre damaligen Zeilen vergessen hatte.

»Wir haben uns vor 4 Jahren schon mal geschrieben«, sagte ich schliesslich.
»Und dann hat mich der Mut verlassen und ich bin untergetaucht.«
»Das macht nichts. Etwa die Hälfte der Leute, die sich bei mir melden, stellen wenig später fest, dass der Zeitpunkt doch nicht passt. Dein Garten ist glücklicherweise immer noch da.«
»Er bleibt, während die Uhr sich dreht. Das Aufblühen ist jedes Jahr schön zu beobachten, ich entwickelte eine Freude für die kleinen Sachen. Das Taubenschwänzchen mit seinem langen Saugrüssel fasziniert mich, ebenso die Holzbiene, die im Sonnenlicht bläulich schimmert. Oder die Schwalbenschwänze, die ich beim Fenchel geschützt aufziehe. Es macht mich demütig, ich bin sonst nicht so ein demütiger Mensch.«
»Du meinst das wegen deines Jobs?«
»Schwer zu sagen, also zumindest den grossen Zahlen solltest du nicht ergiebig sein, sondern die Kontrolle haben über sie. Wie alt bist du eigentlich?«
»Nur noch ein paar Tage lang 32. Immer nach einem Geburtstag denke ich, dass das ewig dauern wird bis zum nächsten … und dann zack. Du bist 43?«
»Schon bald 44. Aus Erfahrung geht es ab 40 noch schneller.«
»Auch wenn es mittlerweile abgedroschen klingt, so glaube ich, dass solange man später nichts bereut, das schon in Ordnung ist. Sind diese Gedanken der Grund, warum du in deinem Garten bewusst Erinnerungen anlegst?«
»Der Flieder dort hinten steht erst seit drei Jahren. Meine Mutter meinte, wir sollten beim Ausheben auf das Roboterkabel achtgeben. Ich wiegelte ab. Und prompt führte das Kabel mitten durch das Beet. Wir lachten uns kaputt. Es sind Kleinigkeiten wie diese, die ich bewahren werde für die Zeit danach, so wie ich es auch bei meiner Grossmutter tue. Letzthin bin ich wieder an ihrem ehemaligen Grundstück im Thurgau vorbeigefahren.«
»Was war das für ein Gefühl?«
»Viel Herzblut, kaum Nostalgie. Mit endgültigen Abschlüssen kann ich gut umgehen. Ausnahmen sind Tage wie der eine, als ich vierzehn war und wir nach der Räumung des Hauses der vertrauten Umgebung mit Tränen Lebewohl sagten. Meiner Grossmutter fiel es am schwersten, zusammen mit meinem Grossvater ins Pflegheim zu ziehen. Das Haus wurde versteigert.«
»Was war das Besondere an der Zeit davor?«
»Der Inbegriff einer lebendigen Kindheit. Wie ich mit dem Tretroller über die Kieswege fuhr, hinfiel und mir die Knie aufschürfte. Wie ich mit meinem Cousin im Estrich in den Schubladen nach Geheimnissen suchte oder im Wald Moos sammelte oder im Friedhof Verstecken spielte, was uns eigentlich nicht erlaubt war. An anderen Tagen stand ich neben Grossmutter in der weiss getäfelten Küche und schaute zu, wie sie Gemüse einlegte oder fermentierte. Manchmal schickte sie uns Radieschen oder Tomaten holen oder Zucchetti, die teilweise so gross wie Unterarme von Erwachsenen waren. Am Rande des Rasens hingen Wäscheleinen, daneben eine Stange, wo Teppiche geklopft wurden. Gegenüber der Garage stand die Schür und dahinter der Kirschbaum, der abends seinen Schatten bis auf die Veranda warf. Der Garten war hauptsächlich ein Nutzgarten, mit dem meine Grosseltern noch vor meiner Zeit ihre sechs Kinder ernährt hatten.«
»Selbst wenn du Fotos hättest, würde ich nicht wollen, dass du sie mir zeigst. Es ist wie fantasievolles Ausmalen der Zwischenräume. Hast du dich deiner Grossmutter oft anvertraut?«

»Wenn es schwierig wurde, ging ich zu meiner Mutter. Mittlerweile ist dieser Garten hier der Ort unserer vertrautesten Gespräche. Ich schaue meine Mutter an, während sie spricht, und denke manchmal: ›Je älter sie wird, desto mehr ähnelt sie meiner Grossmutter.‹ Es ist die Mimik und Gestik. Der Charakter: eigenständig, selbstlos, ein grosses Herz. Mir fällt ein, dass meine Grossmutter eine Zeitlang immer während der Mittagszeit bei unserer Familie anrief. Mich hat das genervt, doch vielmehr war es mir unverständlich, dass meine Mutter seelenruhig ans Telefon ging und erwähnte, dass wir beim Essen seien. Sie hat ihr nie gesagt, sie solle doch bitte nicht um zwölf Uhr anrufen. Heute verstehe ich meine Mutter. Es ist halt das Mami, da sagt man nicht einfach, sie solle nicht anrufen.«
»War das schon immer so, dass du Veränderungen bewusst wahrgenommen hast?«
»Erst seit ungefähr zehn Jahren, das hat auch mit meiner eigenen Vergangenheit zu tun, dass du merkst, dass Dinge flüchtiger sind als geglaubt. Es ist der Lauf des Lebens, dass meine Eltern irgendwann nicht mehr da sein werden. Mit Fakten kann ich umgehen. Jedoch habe ich Angst vor dem Gefühl, das sich danach einstellen wird; das stetige Vermissen, das sich über die Jahre aus dem Schmerz herauslösen wird. Und dass das niemand gleichermassen wird nachfühlen können, da ich Einzelkind und kinderlos bin. Es ist die Angst vor dem Alleinsein trotz Partner und riesigem Freundeskreis. Darum verbringe ich bewusst Zeit mit meinen Eltern, ich gehe bewusst jeden Sonntagabend zu ihnen essen. Meine Mutter und ich lieben es, im Gartencenter nach neuen Pflanzen Ausschau zu halten. Es kommt vor, dass ich allein irgendwo stehe, was anschaue und plötzlich fünf weitere Leute genau dasselbe anschauen. Meine Mutter muss dann immer lachen ab meinen Blicken, die ich ihr zuwerfe. Das ist unser Insider. Und wenn wir nach Hause fahren, hinten alles vollgepackt, und meine Mutter kaum zu sehen ist, weil sie ein Blättermeer im Gesicht hat, ist das ein Gaudi. Bei der Gartenarbeit sagen wir so oft: ›Das hätte Mutti jetzt auch gefallen.‹ So werde ich auch von meiner Mutter reden. Deshalb finde ich nichts Schlimmes an Veränderungen oder an Vergänglichkeit. Es ist mittlerweile sechs Jahre her, dass ich dieses Grundstück übernommen habe. Marlise, die lange hier gewohnt hatte, war körperlich nicht mehr imstande, die Umgebung zu pflegen, und der Tag, an dem sie rausmusste, war ein schwerer Tag für sie. Es half ihr zu wissen, dass ich ihren Garten in Ehren halten werde, mit dem Lebensrucksack, den er mit sich trägt. Marlise zog in eine Wohnung unweit entfernt von hier. Ich bot ihr an, dass wenn sie ihren Garten vermisst, sie jederzeit hier verweilen kann, auch wenn ich weg bin. Kaffeemaschine, Gläser, Kühlschrank … alles ist da. Und wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und eine Konfitüre oder ein Kärtchen auf dem Tisch vorfand, wusste ich, dass sie hier gewesen war.«