»Eine Liebe zwischen Geschwistern kann stark sein, unsere Liebe jedoch ist unzerstörbar.«
(Lesedauer: ca. 10 Minuten)
(Text & Fotos: Alexander Rodshtein; Unterstützung Korrektorat: Natalie M.)
Eintrag 1
»Dass wir in der Kindheit immer im gleichen Bett schliefen, zeigte, wie stark die Verbindung zwischen uns war. In der Nacht hörst du ihre Atemzüge, am Morgen kann es sein, dass du eine ihrer Haarsträhnen aus deinem Gesicht streichen musst. Wenn ich meine Schwester betrachtete, kam stets ein vertrautes Gefühl auf. Sie war meine Nummer 1.
Selbst im Teenageralter quatschten wir vor dem Einschlafen unter der Decke in ihrem Bett über die Pflegeponys, den Schwimmunterricht, Männer oder Eishockey.
›Nochmals können die uns morgen nicht enttäuschen‹, sagte Nath eines Abends. ›Das werde ich Nick nie durchgehen lassen.‹
›Wer weiss, ob der nächste Saison überhaupt noch für Biel spielt.‹
Nath lachte, doch in der Dunkelheit sah ich nur die Umrisse ihrer blau-grünen Augen, die den meinen glichen. ›Wenn der geht, haben wir keinen Hingucker mehr. Er sieht schon verdammt sexy aus.‹
›Du stehst doch gar nicht auf lange Haare.‹
›Stimmt nicht, wann habe ich das gesagt?‹
Dass ich mittlerweile die Hälfte meines Lebens ohne meine Zwillingsschwester verbracht habe, kann ich manchmal kaum glauben. Es kommt mir vor wie gestern und dann wieder wie eine Ewigkeit. Aber weisst du, es soll um das Leben gehen und um die Wertschätzung dessen. Ob du Naths überraschenden Tod erwähnen möchtest oder nicht, überlasse ich dir. Es wäre sicherlich wichtig für andere, zu wissen, dass sie nicht mehr lebt. Ich will unsere gemeinsame Zeit nicht verdrängen, nur um dem Schmerz auszuweichen. Ich stöbere gerne in den Briefen, die wir uns während der Schulstunden geschrieben haben, wenn wir es kaum erwarten konnten, während der Pausen herumzualbern oder uns vom Schulgelände zu verdrücken, um eine zu rauchen. Wir loteten die Grenzen aus, wir rebellierten, ich identifizierte mich mit der Punkszene und trug zeitweise eine ›Zuhälterjacke‹, wie mein Vater es nannte. Das war vielleicht unser grösstes Markenzeichen: Dass Nath und ich uns bereits zu Beginn der Pubertät am Erwachsenenleben zu orientieren begannen. Wir hatten häufig was mit Männern, die drei bis fünf Jahre älter waren als wir. Wir dachten, wir seien cool. Wir dachten, wir seien unverwundbar.«
Eintrag 2
»Sie begann mit dreizehn zu rauchen, vielleicht war es ein Bedürfnis nach Liebe. Ich ziehe an der Zigarette, ich suche Liebe.
An das erste Mal erinnere ich mich genau: 1993. Wir gingen durch die Unterführung des Bieler Bahnhofs, als Nath eine Zigarette hervorholte und sie in einer gekonnten Bewegung anzündete. Ohne zu überlegen, blieb ich stehen und stiess sie grob an der Schulter.
›Rauchst du jetzt etwa?‹, fragte ich mit lauter Stimme.
Nath grinste, ihre Augen strahlten jugendlichen Leichtsinn aus. ›Ja, ich rauche jetzt eine.‹
›Das ist hässlich, wirklich hässlich, Nath!‹ Mein Beschützerinstinkt meldete sich, ich wollte Nath von Dummheiten abhalten. Selbst bei Prüfungen in der Schule sorgte ich mich immer zuerst um sie und nicht um mich.
›Schau dich um, es rauchen viele und umgebracht hat es sie nicht‹, erwiderte sie bestimmt.
›Spinnst du, das macht süchtig, hör auf mit dem Scheiss.‹
Nath nahm einen weiteren Zug, dabei fielen ihre dunkelblonden Haare nach vorne und verdeckten die schwarzen, spiralförmigen Ohrringe, um die ich sie beneidete. Nath blieb stur, und für mich war klar, dass ich sie nicht davon abhalten konnte. So gerne ich es mir in diesem Moment wünschte für sie.
Aber überrascht der Umstand, dass ich ein paar Wochen später ebenfalls damit begann?
Unsere Eltern ahnten sicherlich, dass wir rauchten, obwohl wir versuchten, uns geschickt anzustellen. Dass wir uns regelmässig um zwei Pflegeponys kümmerten, kam gelegen. Denn Nath hatte erkannt, dass der intensive Pferdegeruch an den Kleidern den Zigarettengeruch überdeckte. Und den Lehrern sagten wir, dass wir ein Parfüm aufgetragen hätten, das nach Rauch riecht. Jemand erwiderte daraufhin, dass wir wie ein altes Bahnhofbuffet riechen würden.
An unserem sechzehnten Geburtstag, drei Jahre später, traten wir schliesslich vor unsere Eltern und sagten: ›So, ab heute rauchen wir.‹
Und so taten wir das ab diesem Zeitpunkt ganz offiziell.
Du magst vielleicht denken, dass unser Zuhause ein Ort voller Unsicherheit gewesen war, dass wir wegen einer schwierigen Kindheit im Teenageralter die Grenzen stärker ausloteten als andere es taten. Doch das Gegenteil war der Fall, in unserer Familie herrschte Zusammenhalt, auch wenn ich gestehen muss, dass unsere Eltern mit Nath und mir ein schwieriges Los gezogen hatten. Du darfst nicht unterschätzen, dass wir beide bedingungslos zusammenhielten und damit stark und schlagfertig waren.«
Eintrag 3
»Zu unserem 14. Geburtstag bekamen wir von unserer Grossmutter Kondome geschenkt.
›Es nützt nichts, euch Sachen zu verbieten, ihr tut es ja trotzdem‹, sagte sie.
Zwei ihrer Töchter waren mit 16 Mutter geworden; sie wusste, wovon sie sprach. Da sie direkt in Biel wohnte, eine halbe Stunde Fahrt von unserem Elternhaus entfernt, übernachteten wir hin und wieder bei ihr. Unser Vater rief sie manchmal um 20 Uhr an, um zu fragen, ob wir zu Hause sind. Unsere Grossmutter beruhigte ihn stets und meinte, wir seien bereits an der Tür. Dabei tummelten wir uns vielleicht bis Mitternacht in den Discos, in die wir ohne Ausweis reinkamen, da wir bereits älter als 16 aussahen. Unsere Grossmutter bezahlte sogar das Taxi, damit wir sicher zu ihr nach Hause zurückkehrten.
Was Männer anging, kam Nath häufig schneller und leichter zu einem Freund als ich. Sie war charismatisch, direkt und furchtlos. Bei einem Eishockeyspiel angelte sie sich auf der Tribüne einen der Trommler, während ich nur seinen unscheinbaren Kumpel abbekam. Es war laut und hitzig in diesem Stadion, somit passte es ins Bild, dass Nath ohne Hemmungen herumknutschte.
Plötzlich blickte sie zu mir und meinem Begleiter.
›Wollt ihr nicht auch?‹, rief sie uns auf nett gemeinte Weise zu. Dass ich in dieser Hinsicht so schüchtern war, enttäuschte mich. Doch das verschwieg ich.
Männergeschichten aus unserer Jugendzeit gibt es viele.
Mit 12 lernten wir in der Badi zwei Jungs am Pommes-Stand kennen. Als sie uns am Abend zu den Fahrrädern begleiteten, ihre Rucksäcken lässig über die Schultern geworfen, und wir uns zum Abschied gegenüberstanden, schauten wir uns für eine peinliche Sekunde hilflos an. Nath ergriff die Initiative, näherte sich ihrem Typen und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. Das nahm mir die Hemmung, worauf ich mein Gegenüber küsste. Es war unser erster Kuss, und wir hatten diesen Moment gemeinsam erlebt. Später, vor dem Einschlafen, tauschten Nath und ich uns darüber aus, lachten und tratschten.
Vielleicht kannst du nun besser nachvollziehen, warum es für uns selbstverständlich war, ein Bett zu teilen. Denn wir teilten unser ganzes Leben.«
Eintrag 4
»Tagelang voneinander getrennt, das waren wir nur wenige Male in unserem Leben. Ich erinnere mich an ein Reitlager ohne Nath. Als sie am dritten Tag mit unseren Eltern vorbeikam, und wir uns auf dem Vorplatz erkannten, rannten wir aufeinander zu, umarmten uns fest und gaben uns einen Kuss auf den Mund. Nath las in meinen Augen, was ich gleich aussprechen würde.
›Ich will nicht mehr länger hierbleiben‹, sagte ich in bestimmtem Tonfall zu meinen Eltern. Mein Vater hob die Augenbrauen, meine Mutter zuckte mit den Schultern, so als ob die beiden es geahnt hätten. Dass sie meine Entscheidung einfach so akzeptierten, war nicht selbstverständlich.
Unsere Eltern waren streng. Schminken durften wir uns nur an den Abenden, an denen wir feiern gingen. Wir mussten stets früher zu Hause sein als unsere Freunde, und dass unser Vater jeweils bei meiner Grossmutter anrief, wenn wir bei ihr übernachteten, verdeutlichte, wie wichtig ihm dieser Umstand war. Er war jedoch der Elternteil, den wir eher mal umstimmen konnten. Zu ihm gingen wir, wenn wir um Erlaubnis fragen mussten. Bei unserer Mutter hingegen blieb ein Nein ein Nein. Sie gab uns selten einen Kuss auf die Wange oder sagte, dass sie stolz auf uns sei, falls es denn einen Moment geben sollte, auf den man hätte stolz sein können. Je mehr Nath und ich uns auflehnten, desto stärker hielten unsere Eltern dagegen und umgekehrt. Vielleicht wünschten sie sich insgeheim, dass wir Musterschülerinnen wären wie unsere drei Jahre ältere Schwester, die regelmässig auf uns aufpassen musste. Im Gegensatz zu uns war sie scheu, brav und fleissig. Auch optisch hatten wir wenig gemeinsam: Sie braunhaarig, wir blond. Was Jungs anging, schienen Nath und ich frühreif zu sein, unsere Schwester hingegen liess sich Zeit. Dass sie uns jeweils ins Schwimmbad mitnehmen musste, passte ihr gar nicht, denn wir machten sie vor ihren Freunden lächerlich, stupsten sie an oder verstrubbelten ihre Haare, wenn sie uns zurechtweisen wollte. Sie merkte früh, dass wir uns nichts sagen liessen.
Was ich von Regeln hielt, liess ich meine Eltern ebenso spüren. Regelmässig verschwand ich für ein paar Stunden, fuhr mit dem Mofa durch die Gegend und kam irgendwann wieder zurück. Ich wollte erwachsen sein, mir nichts sagen lassen und trotzte dabei wie ein Kind. Nath war in dieser Hinsicht zurückhaltender. Sie war zwar furchtlos und direkt, aber akzeptierte Regeln eher als ich. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, mich manchmal zu begleiten.
An einem Samstagnachmittag packten wir unsere Rucksäcke, fuhren ohne Bescheid zu geben nach Bern und stöberten in den Einkaufsläden. Als es eindunkelte, gingen wir zum Bahnhof, dachten aber nicht daran, nach Hause zurückzukehren.
›Willst du die ganze Nacht hier sitzen?‹, fragte mich Nath.
›Weiss doch nicht, mir egal, wo wir pennen‹, erwiderte ich.
Schliesslich stand die Bahnpolizei vor uns und nahm uns mit in ihr Büro. Wir gaben den Namen zweier Freundinnen an, aber das scheitere, weil wir den Namen ihrer Mutter nicht nennen konnten. Unser Vater holte uns dann eine Stunde später erleichtert ab. Er rügte uns nicht.«
Eintrag 5
»Ungefähr mit 15 liess ich mir die Seiten rasieren und stylte den Rest zu einer Irokesenfrisur, die ich mehrere Monate lang trug. Ich hatte eine beige Wildlederjacke, dazu Dr. Martens-Stiefel – mit schwarzen Schnürsenkeln wohlgemerkt, denn die weissen galten als Markenzeichen der Rechtsextremen, die vor allem auf der anderen Seite des Flusses ihre Ideologien kundtaten.
In meinem Zimmer hingen Poster von Ramones und Nirvana mit Kurt Cobain. Ich stand auf Punk und sah mich als Anarchistin. Gesetzeslos. Ich sträubte mich gegen die Regeln der Gesellschaft, vielleicht waren es hauptsächlich die Regeln der Eltern. Alles widerstrebte mir: Das Lernen für die Schule, die Spiessigkeit der Lehrer, der Kapitalismus mit seinen geheuchelten Weltverbesserungsparolen. Vielleicht wollte ich anders sein, mich abgrenzen von allen – selbst von Nath – und damit zeigen, dass ich nicht im Schatten von irgendjemanden stand.
Nath hörte bevorzugt Rap und hatte ebenfalls einige Poster an den Wänden hängen. Was uns aber vor allem verband, war der Eishockeyclub Biel. Seit wir 13 waren, nahm unsere Mutter uns an jedes Heimspiel mit. Nath und ich feuerten das Team jeweils von den Stehplätzen aus an, während unsere Mutter bei den Sitzplätzen blieb. Wenn wir eine rauchten, setzen wir uns kurz hin, damit sie uns nicht sehen konnte. Aber ich glaube kaum, dass sie nicht mitbekam, wie zwischen der Menschenmenge auf der Tribüne Rauch aufstieg … dort, wo wir eigentlich hätten zu sehen sein sollen.
Wir hatten sogar die Telefonnummern von einigen Spielern zugesteckt bekommen. Eine Bekannte arbeitete im Management des Klubbetriebs und liess sich von uns überreden. Daraufhin hatten wir die Idee, an manchen Sonntagmorgen um 6 Uhr einen unserer angehimmelten Spieler anzurufen. Manchmal meldete sich gar einer mit verschlafener Stimme, wonach wir wortlos und erschrocken den Anruf abbrachen.
›Scheisse, das war er wirklich‹, sagte Nath und grinste so stark, dass sich ihre Wangen röteten.
›Dann ist er doch noch ins Bett gekommen gestern‹, erwiderte ich lachend.
Die unschönen Seiten gab es ebenfalls. Unsere Mutter würde wenig davon erfahren, denn an die Auswärtsspiele begleitete sie uns nie. Mit dem Reisebus fuhren wir als Fangemeinde zu Orten in der gesamten Schweiz. Thurgau in der Ostschweiz war bekannt dafür, besonders viele Hooligans zu haben. Es war ein nervenauftreibendes Spiel, ein wichtiges dazu, und wir verloren. Gereizt und wütend verliessen wir das Stadion und passierten eine Gruppe Fans der Gegenseite. Ich sah Nath an, dass sie sich nicht würde beherrschen können. Die Haare zerzaust und fettig, ihr Gesichtsausdruck masslos enttäuscht.
›Fickt euch, ihr Arschlöcher‹, schrie Nath der Männergruppe zu, zeigte ihnen den Mittelfinger. Richtig so dachte ich, und gleichzeitig auch, dass wir lebensmüde waren. Ich verspürte den Drang, abzuhauen. Die Gruppe stiess eine Welle von Schimpfwörtern aus und kam auf uns zu – ein Dutzend Männer, manche langhaarig, manche kahlgeschoren – worauf Nath und ich lossprinteten, die Gruppe hinter uns her. Schuhabsätze schlugen auf dem Boden auf, wir stoben vorbei an sich umdrehenden Menschen, über den Parkplatz, zum Reisebus, hinein durch die geöffnete Tür, worauf unser Fahrer sofort reagierte und wir nur die Fäuste an den Scheiben abbekamen und ihre kantigen, verhassten Gesichter sahen.«
Eintrag 6
»Ich stelle mir vor, dass dieser Zufall nie eingetreten wäre. Dass Nath nicht geboren worden wäre, ich ihr grosses Zimmer bekommen hätte und auch nie daran gedacht hätte, in diesen vier Wänden all meine Freuden und Sorgen mit einer zweiten Person zu teilen. Wäre ich ein wohlerzogenes, braves Mädchen geworden? Hätte ich auch nur einen Bruchteil von dem erlebt, was ich zusammen mit Nath erleben durfte? Hätte ich den Mut gehabt, Grenzen auszuloten? Wie wären die letzten Ferien in Italien mit meinen Eltern verlaufen? Wäre mein Blick in diesem Lunapark ebenfalls zu den beiden Männern geglitten, die dort am Geländer lehnten. Denn es wäre niemand neben mir gestanden, hätte mich angestupst und geflüstert: ›Schau dir mal diese Bilderbuch-Machos an.‹
Und vermutlich hätten sie nicht reagiert, wenn wir nicht zu zweit gewesen wären.
Wir waren 16 Jahre alt. Angelo war Anfang 20, eitel, hübsch, mit langen, dunkelblonden Haaren und körperbetonter Kleidung. Damals stand ich auf sowas. Eines Abends in einer Disco kletterte er auf die Bühne, zog sich das Shirt vom Leib, tanzte wie in Ekstase und winkte uns zu sich. Doch peinlich berührt verliessen Nath und ich das Gebäude.
Naths Typ hiess Nino. Ebenfalls Anfang 20, Saisonarbeiter auf der Baustelle. Aber viel anzufangen wusste sie nicht mit ihm, somit quatschte sie ein paar Tage später beim Hotelpool einen Mann namens Roberto an: ›Willst du nicht zu mir und meiner Schwester rüberkommen?‹
Somit war sie bald mit Roberto zusammen und liess Nino fallen. Angelo, Roberto, Nina & Nath … als Vierergespann verbrachten wir die Abende am Strand oder in der Disco. Einmal mussten wir am Pool schlafen, da der Hotelportier nicht mehr da war, um die Tür zu öffnen. Es war die Zeit, in der Nath und ich aufhörten, Nägel zu kauen. Wir hatten es satt, unsere Finger verstecken zu müssen.
Unsere Grossmutter teilte in diesen Ferien ein Zimmer mit uns. Sie wusste über alles Bescheid. Unsere Eltern, die in einem anderen Hotel untergebracht waren, taten es nicht. Drei Wochen lang genossen wir die Zeit mit Angelo und Roberto, dann kam der Abschied. Nath konnte unbarmherzig sein, sie konnte ins Flugzeug steigen, die Zeit hinter sich lassen, ohne eine Träne zu verdrücken.
Mein Abschied mit Angelo war emotionaler. Ich sass auf einer Parkbank und sagte ihm, dass er mir leidtue. Er sass auf dem Boden, hatte den Kopf auf meinen Schoss gelegt und weinte. Noch ein halbes Jahr telefonierte ich regelmässig mit ihm. Dann lernte ich in der Schweiz den Mann kennen, von dem ich schwanger werden würde.
Lange wussten nur Nath und meine Grossmutter Bescheid. Ich würde Mutter werden, im Alter von 17 Jahren. Meine Grossmutter würde meinen Sohn nie zu Gesicht bekommen, sie würde nach dem ersten Trimester friedlich einschlafen. Meine Zwillingsschwester würde nur seine ersten fünf Lebensjahre mitverfolgen können. Dann war auch sie fort, so plötzlich. Ich blieb zurück, gebändigt und mittlerweile verantwortungsbewusst durch die Geburt eines Kindes, das mir alles bedeutet.
Manchmal kann ich es kaum fassen. All diese verrückten Geschichten könnten aus einem Buch stammen, das ich soeben vorgelesen habe. Ein Buch, das nun geschlossen ist. Es dauerte seine Zeit, bis ich mir zugestand, wieder an die Eishockeyspiele zu fahren; das Team anzufeuern, wie Nath und ich es damals getan hatten. Es gibt sicherlich viele Dinge, die ich inzwischen vergessen habe. Darum will ich mir die Erlebnisse immer wieder in Erinnerung rufen. Vielleicht habe ich vergessen, wie sich Naths Stimme anhörte, wie sie ausgiebig lachte oder den Hooligans böse Worte zuwarf. Doch wie ihre Lippen schmeckten, als wir uns auf den Mund küssten, wenn wir uns für ein paar Stunden nicht gesehen hatten … das werde ich nicht vergessen. Du fragst dich nun vielleicht, wonach Naths Lippen schmeckten? Wenn ich so überlege, dann kommt mir vor allem ein Wort in den Sinn: Zuhause.«
In der Memothek teile ich regelmässig Antworten auf die Frage, worauf Menschen stolz sind. Dies im Rahmen meiner Aktion StolzDrauf.