Dezember 2023, Rapperswil (Schweiz)

»Sofari, an welchen Abschied denkst du auch Jahre später noch zurück?«

Es war ein kalter Morgen anfangs Dezember, als ich Sofari traf und sie fragte, ob sie sich an die Träume erinnern könne.

»Ich glaubte, in meinem vertrauten Bett aufzuwachen«, antwortete sie. »Ein sehnlicher Wunsch, denn der Abschied hatte eine beklemmende Leere hinterlassen. Wer bin ich ohne all die anderen?, fragte ich mich in den Wochen danach.«
»Hattest du stets den Gedanken, dass eure gemeinsame Zeit irgendwann vorbei sein wird?«
»Als ich nach Connecticut zog, um als Au-Pair zu arbeiten, stand offen, wie lange mein Aufenthalt dauern wird. Da ich zu Beginn nebst meiner Gastfamilie kaum jemanden kannte, meinte ein Bekannter, hey, you are single, you need to meet Luan. Und wie soll ich ihn beschreiben … einmal gingen wir an einer verlassenen Bühne vorbei, und ohne Scham stieg er hinauf, tanzte und sang lauthals, als gäbe es keinen Morgen mehr. Tage später legten wir uns an den Strand und betrachteten die Sterne. An einem Morgen im Gartencafé nahm ich mein Heft und skizzierte mit Kugelschreiber seinen einzigartigen, vertrauten Gesichtsausdruck. In meinem Abschiedsbrief an ihn – Monate später – lautete die erste Zeile, dass ich nicht weiss, womit ich überhaupt beginnen soll. Luan hatte für alle so viel Liebe übrig, mir war schleierhaft, wo er diese hernahm. Über die Wochen hinweg kamen weitere Au-Pairs hinzu. Wir wurden eine Gruppe bester Freunde, die ich die Westport Chillers taufte. Wenn wir frei hatten, trafen wir uns auf einem mit Bäumen gesäumten Parkplatz, den ich während einer Joggingrunde entdeckt hatte: den Earthplace. Wir sahen uns fast täglich, assen Pizza, machten Spieleabende, schossen Fotos voneinander und führten Gespräche bis es dunkel wurde. Die Monate verstrichen schnell und gleichzeitig auch langsam, da all unsere gemeinsamen Momente ineinander verschwammen und sich wie ein einziger anzufühlen begannen. Im Nachhinein betrachtet, wäre ich wahrscheinlich nicht fortgegangen.«

»Wie kam es, dass du nach einem Jahr die Eastcoast verlassen hast?«
»Ich wollte unbedingt an die Westcoast nach San Francisco. Zwar hatten meine Freunde diesen Wunsch mitbekommen, doch als der Tag nahte, dann … wie soll ich sagen … die Stimmung war ausgelassen, aber du weisst, dass du irgendwann auf ein unliebsames Thema zu sprechen kommen musst. Du wartest den passenden Moment ab, eine Lücke im Gesprächsfluss, doch das passiert nie. Irgendwann sagte ich, guys, you know I am going to leave soon. Und wir verabredeten uns für ein Treffen, das für mich das letzte sein würde. Da ich mich schriftlich besser ausdrücken kann, verfasste ich für jede Person einen Abschiedsbrief. Einer Freundin schrieb ich, dass ich ihr wünsche, dass sie geliebt wird und sich selbst liebt. Damals tat sie sich schwer, eine Richtung in ihrem Leben einzuschlagen. Ich weiss noch, wie ich sie das erste Mal sah und direkt wusste, dass ich mit dieser Frau, die manchmal im ausgefallenen Zebra-Röckli daherkam, unbedingt befreundet sein will. Nun wusste ich nicht, ob ich sie und Luan und alle anderen jemals wiedersehen werde. Zu diesem Zeitpunkt hiess es zudem, mit einer Pandemie fertigzuwerden und social distancing einzuhalten. Alles lag im Ungewissen.«

»Versuchst du Momente, in denen du weisst, dass du einen Menschen vielleicht nie mehr sehen wirst, schnell hinter dich zu bringen?«
»Ich lege viel Wert auf ein anständiges Hallo und Tschüss … sich Zeit nehmen, auch wenn es schwerfällt. In diesen Momenten wirke ich meist gefasst, denn ich fühle vielmehr nach innen und verarbeite das später durch die Kunst, wie dem Fotografieren, Schreiben und Zeichnen. Ich kann mich auch richtig in ein Thema stürzen. Einmal habe ich alles gelesen, was ich über das Faultier finden konnte, habe auch ein Faultier gezeichnet, von Faultieren geträumt – nun gut, beim letzteren bin ich unsicher. Stattdessen hatte ich in den ersten Wochen in San Francisco Alpträume. Mein Bett stand direkt unter einem Fenster und auf einmal schwang es auf, worauf wellenweise Gottesanbeterinnen reinschwappten. Das bestätigte mir, dass ich mich am neuen Ort unsicher und allein fühlte, auch wenn die neue Gastfamilie mich herzlich aufgenommen hatte. Mein Umfeld an der Eastcoast fehlte mir, die ehemalige Gastfamilie ebenso. Dass ich noch tagelang glaubte, im dortigen Bett aufzuwachen, habe ich ja bereits erwähnt. Jedenfalls kam mir irgendwann der Gedanke, warum ich nicht einfach zurückkehre an den Ort, der mir so viel bedeutet. Und so kam es auch. Neun Monate später lebte ich zwar nicht mehr im vertrauten Connecticut, sondern in Massachusetts zwei Autostunden entfernt. Jedes zweite Wochenende fuhr ich zu den Westport Chillers und es fühlte sich an, als wäre ich nie fort gewesen. Nach zehn weiteren Monaten flog ich zurück in die Schweiz, insgesamt über zweieinhalb Jahre habe ich in Amerika verbracht. Und weisst du, was das Beste ist? Letzthin besuchte ich wiederum meine Gastfamilie in Connecticut. Zu den beiden Kindern, die bei meinem ersten Aufenthalt vier und fünf Jahre alt waren, habe ich schon immer eine starke Bindung gehabt. Als Familie waren wir auch gemeinsam verreist. Somit glaubten die Kinder an dem Tag, als mein Abflug nach San Francisco bevorstand und die Familie mich an den Flughafen begleitete, dass wir wiederum gemeinsam in die Ferien fliegen würden. Doch sie wurden enttäuscht. Der fünfjährige Junge weinte anscheinend während des gesamten Heimwegs. Es sei sein erster richtiger Herzensbruch gewesen, sagte mir meine Gastmutter später. Hmm ja … aber eigentlich will ich erzählen, dass ich bei meinem erneuten Besuch in Amerika am ersten Morgen aufwachte und mich kneifen musste um zu glauben, dass ich wahrhaftig in meinem vertrauten Bett von damals aufgewacht bin. Der Traum, den ich einige Male in San Francisco gehabt hatte, war Wirklichkeit geworden.«

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Nach mehrmonatiger Pause treffe ich nun wieder Menschen und halte ihre bewegendsten Erinnerungen fest. Weitere Einblicke gibt’s jeden 7. des Monats in der Memothek.